1.
Am 26. Juni des Jahres 1212, um 6 Uhr früh, hörten die Leute
im unteren Tempelhof *) großes Geschrei. Schnell machten sie
die Fenster auf, um zu sehen, was geschehen sei. Das
Schreien kam aus dem Hause "Zum Goldenen Kreuz", das dem
Bäckermeister Garhibl gehörte. Die Leute liefen hinunter und
wollten in das Haus eindringen, aber das Haustor war
zugesperrt.
Da riefen die Leute: "Aufmachen! Was ist denn geschehen da
drinnen?"
Einige Männer kamen mit eisernen Stangen und wollten das
Haustor einschlagen. Andere liefen zum Stadtrichter Jakob
von der Hülben und erzählten ihm von dem furchtbaren
Geschrei im unteren Tempelhof. Der Stadtrichter rief die
Wachen, bestieg dann sein Pferd und stand in wenigen Minuten
vor dem Bäckerhaus. Er packte den eisernen Hammer, der an
dem Haustor hing und schlug dreimal kräftig an das Tor. **)
Da trat der Bäckermeister heraus; er war ganz bleich im
Gesicht. Der Stadtrichter fragte:
"Was ist denn bei Euch geschehen ?"
Herr Garhibl erzählte: "Unser Dienstmädchen, die Anna, ist
heute wie alle Tage in den Hof gegangen und wollte Wasser
schöpfen. Es ist aber gar so wenig Wasser gekommen; da hat
sie in den Brunnen hinuntergeschaut und auf einmal schreit
sie laut und wird ganz blau im Gesicht. Wir sind gleich in
den Hof gegangen, um zu sehen, was da geschehen ist. Die
Anna hat uns erzählt, dass es unten im Brunnen so stark
glänze und funkle und dass eine garstige Luft heraufgekommen
sei. Wir sind zum Brunnen hingegangen, da ist so ein
gräulicher Gestank heraufgekommen, dass wir bald erstickt
wären. Johann, mein Geselle, hat gesagt, er wolle
nachschauen, was da unten glänze; vielleicht sei da ein
Schatz verborgen. Er hat sich gleich ein Seil um den Leib
gebunden, hat eine Pechfackel in die Hand genommen und die
anderen Gesellen haben ihn hinabgelassen. Kaum war er zwei
Klaster tief unten ***), so hat er fürchterlich geschrien
und hat die Fackel fallen lassen.
Wir haben ihn schnell heraufgezogen, da war er schon
bewusstlos. Vor ein paar Minuten ist er wieder zu sich
gekommen. Wenn Ihr ihn sehen wollt, dann kommt in den Hof
herein. Vielleicht kann er Euch selbst erzählen, was er
Schreckliches erlebt hat!"
2.
Der Stadtrichter und die Leute gingen in den Hof. In einer
Ecke saß der Bäckergeselle auf einem Stein und hustete und
war ganz blau im Gesicht. Er erzählte:
"Das war schrecklich! Da unten ist ein scheußliches Tier; es
schaut aus wie ein großer Hahn, es hat aber einen langen
schuppigen Schwanz, große Füße mit Krallen, glühende Augen
und eine feurige Krone auf dem Kopf. Aus dem Maule hat es
einen feurigen Dunst ausgehaucht. Ich habe gar keinen Atem
bekommen und hab schon gemeint, es ist mein letztes End." Er
hustete und konnte gar nicht weiter sprechen.
Da trat ein Herr aus der Menge und sagte zum Stadtrichter:
"Erlaubt, dass ich den Vorfall den Leuten erzähle;
vielleicht kann ich sie beruhigen!" Der Stadtrichter rief
den Leuten zu: "Ich bitte um Ruhe! Herr Pollitzer, Doktor
der Weltweisheit, will euch etwas sagen!" Es wurde ruhig und
der Doktor sagte:
"Liebe Leute, hier in diesem Brunnen ist ein Basilisk
gefunden worden. Das ist ein merkwürdiges Tier; es ist aus
einem Ei ausgekrochen, das ein Hahn gelegt und eine Kröte
ausgebrütet hat. Der Basilisk ist sehr gefährlich, denn
jeder Mensch, der ihn anschaut, muss sterben. Wir müssen ihn
umbringen. Es muss ihm jemand einen Spiegel aus Metall ****)
vor die Augen halten; wenn das Tier sein eigenes Bild
erblickt, dann erschrickt es so über seine scheußliche
Gestalt, dass es zerplatzt. Ich rate aber niemandem, mit
einem Spiegel hinunterzusteigen! Es könnte sein Leben
kosten."
Es war ganz still geworden im Hofe. Da fragte ein Mann:
"Kann man denn das Vieh nicht auf eine andere Art umbringen
?"
Der Doktor antwortete: "O ja. Wenn man den Brunnen bis oben
mit Steinen und mit Erde anfüllt, dann muss der Basilisk
ersticken."
Da holten die Leute große Steine und viel Erde herbei und
warfen alles in den Brunnen, bis er ganz voll war. Als sie
fertig waren, sagten sie: "So, jetzt braucht sich der Johann
nicht mehr zu fürchten, der Basilisk ist tot!" Aber Johann
war nicht mehr zu sehen. Die Knechte hatten ihn in sein
Zimmer hinaufgetragen. Als die Leute hinaufkamen, war er
bewusstlos. Am selben Abend ist er gestorben.
Zum Andenken an dieses schreckliche Ereignis wurde an dem
Hause Schönlaterngasse Nr. 7 ein Basilisk aus Stein
angebracht; er ist heute noch zwischen den Fenstern des
zweiten Stockes zu sehen.
*) heute Schönlaterngasse
**) Zu der Zeit gab es noch keine Hausglocken
***) Altes Längenmaß: Eine Klaster (schweiz. für Klafter)
ist genau 1m 89 cm lang
****) Glasspiegel gab es noch nicht
Quelle: Wiener Sagen, herausgegeben von der Wiener Pädagogischen Gesellschaft, Wien 1922, Seite 15. Bilder: Extrawurst und gemeinfrei.
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