Die Bundeshauptstadt
Vor vielen Jahren stand in einer Vorstadt des alten Wien
- auf der heutigen Wieden - ein Brunnen, der schon seit
langer Zeit kein Wasser mehr gab. Auch die ältesten Leute
konnten sich nicht mehr erinnern, dass man jemals aus diesem
Brunnen Wasser geschöpft habe. Es ging die Sage, dass der
Brunnen nur dann Wasser gebe, wenn Misswachs und Hunger ins
Land ziehen. Deshalb beobachteten die Leute den Brunnen mit
banger Sorge und sahen oft nach, ob nicht etwa auf dem
Grunde Wasser zu sehen sei. Aber der Brunnen blieb trocken
bis zum Frühjahr 1271. Da bemerkte man plötzlich im
Brunnengrunde das Spiegelbild des Himmels; bald darauf hörte
man ein Rauschen und Gurgeln und nach wenigen Tagen stand
der Brunnen bis oben voll Wasser. Die Leute wurden ängstlich
und sagten: "Der Hunglbrunn hat Wasser, das bedeutet Unglück"
Und wirklich war das Jahr 1271 ein Unglücksjahr. Während
des ganzen Sommers fiel kein Regen und die Sonne brannte mit
nie gekannter Hitze auf die Stadt. Das Gras verdorrte auf
den Wiesen, die Bäume standen ohne Laub da, die Feldfrucht
war so dürr, dass man sie nicht mit der Sense abschneiden
konnte; die Leute streiften die trockenen Körner mit der
Hand ab. Die Ernte war schlecht wie seit Menschengedenken
nicht. "Das bedeutet Hungersnot," sagten die Leute. Die
Hitze war so groß, dass die Menschen nicht mehr aus den
Häusern gehen wollten. Auf den Feldern stürzten die Leute,
vom Hitzschlag getroffen, tot zusammen. Alle Brunnen der
Umgebung und alle Bäche waren ausgetrocknet; auch der
Hungerbrunnen hatte jetzt kein Wasser mehr. Bei Nacht gingen
die Leute zur Donau und tranken sich satt. Viele wurden
davon krank und starben eines schnellen Todes.
Im Juli brach in Wien ein großer Brand aus. Das Feuer griff
schnell um sich, weil die Holz- und Strohdächer durch die
Hitze ganz trocken waren. Man hatte kein Wasser zum Löschen
und viele Häuser brannten bis auf die Grundmauern nieder. In
demselben Sommer führte Ottokar von Böhmen einen Krieg gegen
die Ungarn. Ganze Heereszüge durchzogen die Stadt Wien und
überall wurden Lebensmittel verlangt. Doch die Wiener hatten
selbst Hunger und konnten nichts hergeben. Da musste Ottokar
mit dem Kriege aufhören. Das Heer blieb in Wien und wartete
auf bessere Zeiten; die Soldaten aßen den Wienern das Wenige
weg, das sie noch hatten.
Im Herbste fiel endlich der erste Regen. Die Leute liefen
voll Freude auf die Straße und fingen die Tropfen auf; sie
stellten Häfen und Bottiche ins Freie, um das kostbare
Wasser zu sammeln. Bald strömten auch wieder die Quellen,
die Bäche führten wieder Wasser und die Brunnen begannen zu
laufen.
Zum Andenken an diese Begebenheit erhielten später die elf
Häuser der Vorstadt den Namen Hungerbrunnen. Die Leute
sagten aber immer Hunglbrunn. Die Gemeinde Hungerbrunnen
hatte im Amtssiegel das Bild eines Ziehbrunnens mit einem
Wassereimer. Im alten Rathause in der Wipplingerstraße ist
auf den großen Glasfenstern heute noch das Bild eines
Ziehbrunnens zu sehen; es ist das Wappen der Gemeinde
Hunglbrunn. Bis zur Einteilung der Bezirke gab es in Wien
eine Hungelbrunngasse; heute heißt sie Schönburgstraße.
Quelle: Text: Wiener Sagen, herausgegeben von der Wiener Pädagogischen Gesellschaft, Wien 1922, Seite 19, Bilder: gemeinfrei und Peter Gugerell, gemeinfrei.
Letzte Aktualisierung der Seite: Montag, 1. Januar
2025
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Günter Nikles
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