Auf dem Boden des heutigen Unter-Sievering war vorzeiten
ein großer Wald, und darin stand eine Jägerhütte. Einmal
schickte der Jäger seinen Gehilfen auf den Anstand. Der
Bursche ging zur Jägerwiese hinauf und stellte sich hinter
einen Baum.
Spätabends kam eine Prozession des Weges. Es waren lauter
weißgekleidete Frauen, aber eine von ihnen, die in der Mitte
ging, war schwarz und trug in der linken Hand ein weißes
Tüchlein. Alle hatten brennende Fackeln, nur die Frau, die
in der Mitte schritt, hatte eine abgebrochene Kerze in der
rechten Hand.
Als der Zug an dem Baum vorüber kam, hinter dem der Jäger
stand, ging die schwarze Frau auf den Burschen zu und winkte
ihn zu sich heran. Er ging mit ihr und den andern Frauen
über Wiesen, Berge und Täler, und endlich kamen sie vor ein
schönes Schloss. Das war ganz aus Kristall und hatte goldene
Tore, die aber verschlossen waren. Jetzt trat die schwarze
Frau aus der Reihe heraus und murmelte etwas, da sprang eine
Tür auf und sie gingen beide hinein.
Der Bursche war vor Staunen ganz außer sich und brachte kein
Wort hervor. Er stieg mit seiner Begleiterin über eine
gläserne Treppe empor, und nun wies sie mit der Hand auf
eine Tür. Darauf verschwand sie. Der Bursche öffnete die
Tür, kam in eine Küche und wärmte sich am Feuer. Da der
ganze Palast hell erleuchtet war, so wusste er nicht, ob es
Tag oder Nacht sei.
Plötzlich ging eine Tür auf, und ein schwarzgekleidetes
Männlein trat herein. Es trug einen Hut mit einer sehr
breiten Krämpe, mit silbernen Borten rundherum und mit einer
silbernen Quaste. Sein Höslein reichte ihm nur bis an die
Knie. Die übrige Kleidung des Männleins bestand aus einem
kurzen Wams, roten Strümpfen und Schuhen mit silbernen
Schnallen.
Der Kleine sah dem Burschen ins Gesicht, machte eine
seltsame Miene und ging wieder hinaus, ohne ein Wort zu
reden. Dem Burschen wurde immer ängstlicher zumute. Er
wollte ins Freie, fand aber keinen Ausweg. Plötzlich hörte
er ein furchtbares Getöse, sodass das Schloss bis in die
Grundmauern erzitterte.
Auf einmal stand die schwarze Frau wieder vor dem Jäger. Sie
begehrte seine Jagdtasche und ging damit fort. Nun suchte
der Bursche wieder voll Angst einen Ausweg. Plötzlich war er
wieder ganz allein auf der Jägerwiese, das Schloss aber war
verschwunden. Seine Jagdtasche lag neben ihm auf dem Boden.
Er hob sie rasch auf und lief nach Hause.
Dort wunderten sich alle über seine Wiederkehr und fragten
ihn, wo er denn das ganze Jahr gewesen sei. Sein Dienstherr
hatte inzwischen einen andern Jagdgehilfen genommen, und
deswegen gab der Bursche seine Jagdtasche zurück. Als sie
aber der Herr öffnete, sah er, dass sie mit Goldstücken
gefüllt war.
Nun musste der Bursche alles, was er erlebt hatte, erzählen.
Darauf verlangte der Jäger, dass ihm der Bursche den Platz
zeige, wo er der schwarzen Frau zuerst begegnet sei; sonst
müsste er glauben, der Bursche habe das Gold auf unredliche
Art erworben.
Als aber beide auf die Jägerwiese kamen, hob der Jäger
schnell das Gewehr und wollte auf den Burschen abdrücken.
Die Kugel drehte sich jedoch sogleich nach dem Schusse um
und traf den Schützen selbst. Wegen dieser Begebenheit wurde
damals, so heißt es, auf der Jägerwiese ein Kreuz errichtet.
Siehe auch
Gasthaus zum Agnesbrünnl und
Jägerwiese
Quelle: Die schönsten Sagen aus Wien, o. A., o. J., Seite 98., Bilder: www.nikles.net
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Günter Nikles
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