Wie sich Wien während der Türkenbelagerung in
fürchterlichen Nöten befand, so erging es auch allen Orten
seiner Umgebung; insbesondere hatte Klosterneuburg zu
leiden. Auch dahin kamen die türkischen Horden, und es
schien ihnen ein leichtes, dasselbe zu erobern. Schrecken
und Entsetzen erfasste die Bewohner, als die türkischen
Scharen herangezogen kamen. Propst Sebastian, der in dieser
schweren Zeit dem Kloster vorstand, sammelte rasch die
Mönche und die Bewohner des Städtchens, um mit ihnen zu
entfliehen. Denn nur in eiligster Flucht konnten sie
wenigstens ihr Leben retten. Da trat ein Mann vor den
Propst; Marcellus Ortner war sein Name. "Herr", sprach er,
"flieht mit den Euren, aber erlaubt, dass ich mit meinen
treuen Gefährten bleibe und dieses Kloster gegen die Türken
verteidige. Gott wird uns nicht verlassen. Schon so oft hat
sein heiliger Wille auch durch die Hand der Schwachen Wunder
gewirkt. Wir wollen das Kloster verteidigen und unser
Herzblut für dasselbe opfern!"
Vergebens hielt ihm der Propst vor, welch schweres Werk er
beginne, er wollte nicht schuld sein an dem Tode so braver
Männer. Doch diese ließen nicht ab von ihrem Vorhaben und
blieben allein in der Burg, felsenfest auf Gottes Hilfe
bauend und auf ihren Löwenmut. Schon in der nächsten Stunde
rasten die Türken heran und fingen an, die Wälle zu
ersteigen. Sie glaubten, es werde ihnen ein leichtes sein,
das von aller Hilfe verlassene Kloster zu erobern und Herren
einer unermesslichen Beute zu werden. Aber Marcellus Ortner
und seine Helden warfen die Leitern der Türken von den
Wällen herab, gossen siedendes Öl und Blei auf die
Nachstürmenden, warfen Felsenstücke auf sie herunter und
schlugen jeden, der doch den Wall erklomm, mit dem Schwerte
nieder. Die Türken, die da meinten, sie könnten das Kloster
widerstandslos erobern, hatten keinen Ahnung, dass es nur
ein Häuflein allerdings todesmutiger Helden war, das sie in
ihrem Siegeszuge aufhielt und glaubten, in demselben befände
sich eine große Besatzung. Immer wieder stürmten sie heran,
aber immer wieder wurden sie zurückgeschlagen.
Lange aber konnte dieser ungleiche Kampf nicht währen, und
die todesmutigen Verteidiger mussten gar bald erliegen. Wenn
aber die Not am größten ist, ist Gottes Hilfe am nächsten.
Was bedeutet die furchtbare Bewegung in dem ganzen
türkischen Heere? In wilder Flucht eilen die Türken von
Klosterneuburg zu dem türkischen Heere von Wien, um sich da
mit den übrigen zur Schlachtordnung zu versammeln. Vom
Kahlenberg kommt das deutsche und polnische Entsatzheer,
mächtig schmettern die Trompeten, im Sonnenglanz flattern
die Fahnen, und die Waffen des christlichen Heeres blinken.
Kurz ist die Entscheidungsschlacht, und in wildester Flucht
eilen die Türken, verfolgt von Deutschen und Polen, dahin.
Gerettet ist Wien, die alte Kaiserstadt, ihre Tore öffnen
sich den siegreichen Befreiern. Aber auch Klosterneuburg ist
gerettet, und die Siegesfahnen flattern von den Türmen des
Klosters. Marcellus Ortner und seine kleine Heldenschar, sie
haben nicht umsonst gekämpft; unversehrt blieb das Kloster
und gerettet waren seine reichen Schätze. So hat der
Heldenmut eines braven Mannes das schier Unglaubliche
glücklich vollendet, und sein Name soll unvergessen bleiben.
Quelle: Die schönsten Sagen aus Wien, o. A., o. J., Seite 303, Bilder: gemeinfrei und www.nikles.net.
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Günter Nikles
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