Eine finstere Dezembernacht lag schwer über der Stadt
Wien und den Dörfern und Vororten, die sich um die Stadt
reihten. Heulend tobte der Sturm die Hänge des Wienerwaldes
entlang und stemmte sich wütend gegen die Häuschen der
Winzer, die sich in die Bodenfalten duckten. Da soll sich,
wie der Chronist berichtet, über dem Dorf Ottakring ein
unheimliches Schauspiel zugetragen haben.
Es war nahe an Mitternacht, das schaurige Getöse des Sturms
hatte seinen Höhepunkt erreicht und ließ viele Menschen den
gewohnten Schlaf nicht finden. Da erhellte sich plötzlich im
Westen der Himmel, und die erschrockenen Dorfbewohner sahen
zu ihrem maßlosen Staunen in den Lüften langsam einen
Leichenzug heranschweben. Vierspännig war der Wagen, in dem
der Tote saß. Kein Trauernder gab das Geleit, nur ein
mächtiger Ritter stand am Wagen und hütete das Gefährt, das
sich langsam der Stadt näherte.
Wer genauer hinschaute, erkannte in dem Toten den
Schlossherrn von Ottakring, der vor kurzer Zeit auf
geheimnisvolle Weise verschwunden war. Aber noch ehe sich
die aufgescheuchten Dörfler von ihrem Schrecken erholt
hatten, war der düstere Geisterzug vorübergeglitten. Von
einem fernen Turm dröhnten zwölf dumpfe Schläge, und der
Spuk in den Lüften zerrann. Mit erneutem Grimm tobte der
Sturm gegen die Häuser des Dorfes.
Wer konnte jener Mann gewesen sein, den die Bewohner von
Ottakring Jahre hindurch ihren Schlossherrn genannt und
dessen Leichenzug sie nun in den Lüften gesehen hatten?
Erst viel später erfuhren sie seine Geschichte. Ein
deutscher Feldoberst hatte im Jahre 1457 die starke Festung
Marienburg, die dem Deutschen Ritterorden gehörte, den
feindlichen Polen verräterisch in die Hände gespielt,
nachdem man ihn mit Gold bestochen hatte. Mit dem Judaslohn
war er nach Wien geflohen und führte hier ein genussreiches
Leben. Als er dann noch die Liebe einer reichen Bürgerswitwe
gewann und diese seine Gattin wurde, schien sein Glück fest
begründet.
Doch die Marienburger hatten den Verrat ihres ehemaligen
Obersten nicht vergessen. Es gelang ihnen, seinen Aufenthalt
auszuspüren; sie richteten ein Schreiben an den Stadtrat von
Wien, worin sie den Verrat des Mannes schilderten und
erklärten, dieser Verräter sei eine Schande für die ganze
Stadt Wien. Der Inhalt des Schreibens wurde nach kurzer Zeit
ruchbar, was zur Folge hatte, dass man den Obersten bald
allseits zu meiden begann. Dieser fühlte die Abneigung, die
man ihm entgegenbrachte, und beriet sich mit seiner Frau,
was sie dagegen tun sollten. Schließlich fassten sie den
Entschluss, Wien zu verlassen und sich in einem der Vororte
außerhalb Wiens niederzulassen.
Bald ergab sich die Gelegenheit, ein geräumiges Haus in
Ottakring zu erwerben, das der Oberst zu einem stattlichen
Schloss ausbauen ließ. Hier verbrachte das Ehepaar nun seine
Tage, ohne sich viel um die Gesellschaft oder die Nachbarn
zu kümmern. Besucher wurden im Schloss nie gesehen; nur zum
sonntäglichen Gottesdienst verließen die beiden ihr Heim.
An einem Sonntag hatte sich der Schlossherr mit seiner
Gemahlin wieder auf den Weg zur Kirche gemacht. Auf dem
Friedhof in der Nähe der Kirchentür lehnten an einem
Grabstein drei Männer und musterten mit scharfen Blicken die
ankommenden Kirchenbesucher. Plötzlich rief der stattlichste
von ihnen: "Hier ist er!" Im selben Augenblick sprangen die
beiden anderen auf den überraschten Schlossherrn zu,
entwanden ihm seine Waffen und rissen ihn zu Boden. Bevor
sich noch seine Gattin, vor deren Augen sich der Überfall
abgespielt hatte, recht zu fassen vermochte, wurde der
Schlossherr gefesselt aus dem Friedhof geschleppt. Man hat
ihn nie wieder gesehen. Alle Nachforschungen der trostlosen
Frau über das Schicksal ihres entführten Gatten waren
erfolglos.
Der Leichenzug aber, den manche Bewohner Ottakrings in jener
stürmischen Winternacht in den Lüften gesehen, schien den
Leuten ein Zeichen dafür, dass der Schlossherr nicht mehr
unter den Lebenden weilte.
Quelle: Text: Die schönsten Sagen aus Österreich, o. A., o. J., Seite 18, Bilder: Hans Weingartz Original unter der Lizenz CC BY-SA 2.0 de und gemeinfrei.
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Günter Nikles
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