(Hauszeichen Zum Wassermännlein, 5., Wienzeile Nr. 71)
Vor vielen Jahren hauste einer Sage nach in der Wien ein
Wassermann, von dem wussten besonders die Bewohner des
Magdalenengrundes, wo er sich eben aufhielt, viel zu
erzählen. Er war klein, hatte einen gekrümmten Rücken,
tiefliegende Augen und ein blasses Gesicht. Das Männlein
trug einen grauen Rock, von dem immer Wasser herabtropfte,
einen grünen Hut mit einem schwarzen Band und hohe
Röhrenstiefel mit roten Quasten. Seine Haare reichten bis
zur Erde hinab. Bei feuchtem Wetter ließ es sich abends auf
den Brettern des Wehrs sehen, und dabei schaute es immer
hinunter auf den Boden. Es winkte beständig den Leuten und
lockte sie dadurch in seine Nähe. Kam ihm einer nahe genug,
gab es sich alle Mühe, ihn zu packen und ins Wasser zu
ziehen.
Solange das Männchen da war, konnte das Wasser nicht
austrocknen und auch die Tiefe nicht gemessen werden. Selbst
in solchen Jahren, in denen in ganz Wien große Wassernot
war, soll es hier viel Wasser gegeben haben.
Das Wassermännlein hatte unterm Wasser mehrere Zimmer, darin
wohnte es und hielt auch die Seelen der Ertrunkenen in
Töpfen aufbewahrt. Den Pferden und Ochsen, die in die
Schwemme geführt wurden, tat es nichts zuleide. Es lebte
lange Zeit im Wasser da unten und soll sich jährlich
wenigstens ein Opfer geholt haben.
Einmal band sich ein mutwilliger Bursche, der nicht
schwimmen konnte, mehrere Ochsenblasen um den Leib, und da
er jetzt glaubte, er könne nicht untergehen, so wagte er
sich ganz nahe zu der gefährlichen Stelle hin. Es dauerte
nicht lange, so begann er um sich zu schlagen und zu
schreien, und gleich darauf ging er unter. Die Leute sagten,
der Wassermann habe ihn zu sich hingelockt und ihm dann die
Ochsenblasen abgeschnitten.
Als einmal im Herbst die Wien gerade stark angeschwollen
war, gingen mehrere Buben zum Ufer hin und wollten das Holz
auffangen, das vom Wehr hinabgeschwemmt wurde. Als sie schon
nach Hause gehen wollten, sah einer von ihnen eine schöne
Gerte daherschwimmen. Er lief auf den kleinen Hügel
hinunter, auf dem die andern standen, und wollte die Gerte
mit einer Stange herausfischen.
Aber sie war zu kurz, und jetzt stieg der Bub auf einen
Stein, und neigte sich vor. Plötzlich löste sich der Stein
und der Knabe stürzte ins Wasser. Die andern sahen dies
nicht gleich. Erst als ein Mädchen ausrief: "Schaut den an,
der schwimmt!", liefen alle hin und zogen ihn mit viel Mühe
ans Ufer. Sicherlich hatte das Wassermännchen den Buben mit
der Gerte herangelockt und später auch den Stein gelockert.
Quelle: Die schönsten Sagen aus Wien, o. A., o. J., Seite 214, Bilder: www.nikles.net und Herzi Pinki unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.
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Günter Nikles
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