Person - Friedrich Genoch
Friedrich Genoch, Dr. Med. vet., Amtstierarzt, * 1896, † 15.01.1945, Bestattungsdatum: 29.01.1945.
Wiener Tierärztliche Monatsschrift 1928, Hauptteil, Seite 733-737:
Parästhesien bei einem Pferde.
Von Tierarzt
Dr. Friedrich Genoch‚ ehem. Assistent der chirurg. Klinik der Tierärztlichen Hochschule in Wien.
Am 18. März 1925 wurde unter Prot. Nr. 218 ein schweres Zugpferd
der Pinzgauer Rasse an die chirurgische Klinik eingebracht mit dem
Nationale: kastanienbrauner Wallach ohne Zeichen, 9 Jahre alt, 173 cm hoch.
Das Pferd stammte aus der Ökonomie meines Bruders in
Eßlingen bei Wien,
wo es seit 4 Jahren im landwirtschaftlichen Betriebe in Verwendung
stand. Es war stets gesund‚ in gutem Nährzustande und als
gutes Zugpferd anerkannt.
Am l5. März 1925 bemerkte der Kutscher bei der Frühfütterung, daß
das Pferd, auch während des Fressens, fortwährend mit dem linken
Hinterfuße aufstampfte. Tags darauf untersuchte ich das Tier und konnte
folgende Beobachtungen feststellen: Das sonst gesunde Pferd (Puls,
Atmung, Temperatur normal, ebenso die Nahrungs- und Getränkeaufnahme)
stampfte‚ wenn es im Stalle stand, mit dem linken Hinterfuße
in Zeiträumen von 10—20 Minuten auf den Boden auf, und zwar geschah
dies immer serienweise‚ 10—3O Schläge hintereinander. Dieses Aufstampfen
mit dem Fuße spielte sich folgendermaßen ab: Das Pferd stand
eine Zeit vollkommen ruhig, ganz plötzlich riß es das Bein krampfartig
in die Höhe (die Bewegung war eine ähnliche wie bei dem sogenannten
Streukrampf oder beim Hahnentritt des Pferdes), wobei der Fuß im
Sprung-, Knie- und Hüftgelenk maximal gebeugt wurde, und schlug dann
mit ziemlicher Wucht den Fuß auf den Boden auf. Sogleich anschließend
stampfte es dann 10—30mal hintereinander auf den Boden auf, wobei
die einzelnen Schläge immer schwächer und schwächer wurden. Es stand
dann wieder einige Minuten ruhig, worauf sich das Stampfen, wie oben
beschrieben, ohne daß irgendeine äußere Ursache zu bemerken gewesen
wäre‚ wiederholte. Anderseits konnten diese Erscheinungen auch dadurch
ausgelöst werden, daß man das Pferd durch Anruf nach links oder nach
rechts umtreten ließ, also sowohl bei Beginn der Belastung als auch der
Entlastung des linken Hinterfußes. Wurde das Pferd bewegt oder zur
Arbeit verwendet, so blieben diese Erscheinungen aus.
Bei der Adspektion konnten am linken Hinterfuße keinerlei Veränderungen
festgestellt werden. Bei der Palpation ließ sich das Pferd
ruhig von der Hüfte bis zum halben Metatarsus hinab abtasten‚ weiter abwärts
ließ es die Berührung nicht zu und stampfte das Tier, welches
sonst sehr gutmütig war‚ schon bei der leisesten Berührung heftig mit dem
Fuße auf den Boden auf und schlug aus. Den linken Hinterfuß aufzuheben
war trotz Anwendung von Gewaltmitteln ganz ausgeschlossen.
Am 18. Marz brachte ich das Pferd in die chirurgische Klinik.
Hier wurden nun ebenfalls die oben beschriebenen Beobachtungen gemacht.
Um eine genauere lokale Untersuchung vornehmen zu können,
wurde das Pferd niedergelegt. Trotz der Fesselung benahm sich das Tier
schon bei leiser Berührung des Fußes vom halben Metatarsus nach abwärts
ganz ungebärdig. Beim Berühren mit einer Nadel sowie beim Versuche‚
Nadelstiche zu setzen, zeigte das Pferd eine unglaubliche Überempindlichkeit
(Hyperästhesie)‚ so daß man mit größter Vorsicht vorgehen
mußte, um nicht verletzt zu werden‚ da die ausgelösten Zuckungen
blitzartig erfolgten. Nach subkutaner Anlegung von mehreren Depots
einer stärkeren Novokainlösung in der Gegend der beiden Plantarnerven
ließ sich das Pferd ruhig untersuchen. Es konnten aber keinerlei Veränderungen
festgestellt werden. Haare und Schuppen von der Fesselregion
entnommen und auf Dermatophagus-Milben untersucht, lieferten ebenfalls
ein negatives Ergebnis. Das Bein wurde nun gründlich mit einer Creolinlösung
gebürstet. Ungefähr eine halbe Stunde darnach‚ nach Aufhören
der anästhesierenden Wirkung des Novokains‚ zeigte das Pferd die
gleichen Erscheinungen wie vorher.
Weiters wurde das Pferd rektal bezüglich einer Thrombose (intermittierendes
Hinken) untersucht, doch konnten sowohl an der Aorta als
auch an der Arteria hypogastrica und iliaca keinerlei Veränderungen festgestellt
werden. Eine halbstündige ausgiebige Longierung zeigte ebenfalls
keine Erscheinungen, die für „intermittierendes Hinken“ irgendwelche
Anhaltspunkte gegeben hätten.
Am 20. März wurde das Pferd als ungeheilt von der Klinik entlassen
und wieder im landwirtschaftlichen Betriebe verwendet. Es blieb
weiterhin unter meiner ständigen Beobachtung und ich konnte bemerken,
daß sich der Zustand immer mehr verschlechterte. Das vorher gut genährte
Tier magerte langsam aber konstant, trotz guter Freßlust, ab. Die
einzelnen Pausen zwischen den Stampfbewegungen wurden immer kürzer,
das Stampfen heftiger. Nun zeigte sich diese Stampfbewegung auch im
Zuge, das Pferd blieb einfach plötzlich stehen, um eine Serie herunter zu
klopfen. Ich konnte nun auch bemerken, daß das Tier im Stande der Ruhe
des öfteren den Versuch machte, an dem linken Hinterfuße mit den Zähnen
zu nagen. Doch kaum berührten die Lippen den Fessel‚ so riß es auch
schon krampfhaft den Fuß weg und empor und stampfte eine Serie auf
den Boden. Das Bein zeigte nun auch vom Fesselgelenk abwärts eine
geringe umfassende Schwellung.
Am 27. April wurde das Pferd, da es das Eisen am linken Hinterfuße
verloren hatte‚ an der Poliklinik der Tierärztlichen Hochschule an
der Beschlagwand beschlagen, da trotz Anwendung aller nur möglichen
Zwangsmittel ein Aufheben des Fußes unmöglich war. — Das Stampfen
wurde nun auch während der Bewegung immer häufiger, so daß das
Pferd zu einer Arbeitsleistung nicht mehr herangezogen werden konnte.
Mein Bruder wollte es daher schlachten lassen. Da dieser rätselhafte Fall
für mich von größtem Interesse war‚ überredete ich ihn, davon Abstand
zu nehmen. Das Pferd wurde auf die Weide gegeben, wo es sich selbst
überlassen war und ich Gelegenheit hatte, das Tier ständig zu beobachten.
Gegen Ende Mai besserte sich der Zustand etwas, so daß es wieder zu
leichteren Arbeiten herangezogen werden konnte. Am 2. Juni erkrankte es
an Brustseuche, wurde mit Neo-Salvarsan behandelt und war am 14. Juni
geheilt. Während dieser Krankheit besserte sich auch auffallend das
Leiden am linken Hinterfuße (Salvarsanwirkung?), der Nährzustand
wurde wieder besser und in weiteren drei Wochen waren die Stampfbewegungen
vollständig verschwunden. Mitte Juli war das Tier anscheinend
vollkommen wiederhergestellt‚ in gutem Nährzustande und ein
ebenso gutes Zugpferd wie früher.
Mitte November erkrankte es an einer leichtgradigen Obstipation des
großen Colons, welche nach Anwendung der gebräuchlichen therapeutischen
Maßnahmen bald wieder behoben war.
Am 30. November Vormittag stürzte das Pferd während einer anstrengenden
Arbeitsleistung auf dem Felde plötzlich zusammen, erhob
sich aber nach einigen Minuten wieder und konnte der Kutscher anstandslos
nach Hause fahren. Mittags versagte es das Futter und zeigte leichte
Unruhe- (Kolik-) Erscheinungen. Einige Stunden nachher untersuchte ich
das Pferd und konnte folgenden Befund erheben: Das Pferd trippelt im
Stalle hin und her, legt sich ruhig nieder, um nach einiger Zeit wieder
aufzustehen. Puls und Atemfrequenz sind etwas erhöht, Rektaltemperatur
39°. Lungenbefund normal. Bei der rektalen Untersuchung fand ich eine
Obstipation des großen Colons. Therapie: O-05 Arekol. hydrobromic. subkutan
in fraktionierten Dosen‚ 30 g Aloe per os und Seifenklistier. Tags
darauf wurden dem Tiere einige Zuckerrüben und Wasser vorgesetzt. Kotabgang
in geringen Mengen, das Pferd macht einen apathischen Eindruck.
Rektaltemperatur 38,5°. Die Kotmassen im großen Colon sind erweicht.
Abermals Verabreichung von 30 g Aloe per os. Am nächsten Tage ist das
Tier sehr matt, liegt viel und hat Durchfall. Der Bauch ist aufgeschürzt,
Futteraufnahme gering, großes Durstgefühl, Puls 60, minder kräftig,
Atemfrequenz erhöht und oberflächlich, Rektaltemperatur 39,6. Rektaler
Befund: Wässeriger Kot im Rektum, das große Colon ist ziemlich leer.
Als ich weiter nach vorne tastete und mit dem Arme bis zur Schulter ein-
ging, konnte ich mit den Fingerspitzen eine ca mannskopfgroße Geschwulst
fühlen, deren Oberfläche etwas höckerig war. Die Geschwulst ließ sich
zwar etwas nach vorne verschieben, aber nicht nach links oder rechts
und schien in der Gegend der Wirbelsäule fest angewachsen zu sein. ——
Tags darauf ließ ich das Pferd, da der Schwächezustand immer bedenklicher
wurde, schlachten.
Sektionsbefund:
In der Gegend der linken Niere war eine weit über mannskopfgroße
derbe Geschwulst von leicht höckeriger Oberfläche, welche dorsal
innig und in breiter Ausdehnung mit der Fascia iliaca und der Lendenmuskulatur,
kranial bis in die Gegend des 16. Brustwirbels, kaudal bis
zum Beginne des Os sacrum (Kreuzbein) durch derbe Bindegewebestränge
verwachsen war. Die Geschwulst hatte das Gewicht von 12 1/4 kg. Am
Querschnitt dieser Geschwulst war eine mächtige, ca 10—12 cm starke
Bindegewebskapsel zu erkennen, während der Tumor als graurötliche
mit unscharf begrenzten kleinen, trüben, leicht gelblichen Herden durchsetzte
Masse imponierte. Die Tumormasse ging allmählich ohne scharfe
Grenze in das anscheinend normale Nierengewebe über.
Der histologische Befund ergab: Sarkomatose der linken Niere.
Versuch einer Erklärung:
Aus der im obigen Sektionsbefund beschriebenen Lagebeziehung des
Tumors zu seiner Umgebung kann man entnehmen, daß die Geschwulst
auch in innigem Kontakt mit den Nerven des Lenden-Kreuzgeflechtes war.
Der Plexus ischiadicus geht aus dem letzten Lendennerv und den ersten
2 oder 3 Kreuznerven hervor. Seine direkte Fortsetzung bildet der Nervus
ischiadicus, der sich wieder in den Nervus peronaeus und Nervus tibialis
aufteilt. Der Ramus medialis und lateralis des Nervus peronaeus sowie
die beiden Plantarnerven des Nervus tibialis versorgen die Haut vom
Metatarsus abwärts.
lm Beginne dürfte wohl durch Druck oder Zerrung des Tumors an
den Nerven des Lenden-Kreuzgeflechtes, insbesondere am Plexus ischiadicus,
ein ständiger Reiz auf die oben beschriebenen Hautnerven des Nervus
peronaeus und tibialis ausgeübt worden sein, welche diese Parästhesien
hervorriefen und das Pferd veranlaßten, mit dem Bein auf den Boden zu
stampfen. Das Aufhören dieser Erscheinungen anfangs Juli könnte auf
eine Zerstörung der Nervenleitung durch den fortschreitenden Prozeß bezogen
werden. Leider ist es um diese Zeit unterlassen worden, eine genauere
Untersuchung des linken Hinterfußes auf Schmerzempfindlichkeit vorzunehmen‚
doch konnte vom Juli ab dieses Bein ruhig, ohne jede Anwendung
von Zwangsmitteln‚ zum Beschlage aufgehoben werden, so daß die Annahme
einer Zerstörung der Nervenleitung berechtigt erscheint.
Eine anatomische und histologische Untersuchung der Nervenstämme
des Plexus‚ die die Sachlage geklärt hätte, ist, wie es leider in der Praxis
so geht, unterblieben.
Weiters im Grab bestattet:
Marie Genoch, * 1893, † 15.01.1945, Bestattungsdatum: 29.01.1945
Friedrich Genoch, * 1931, † 15.01.1945, Bestattungsdatum: 29.01.1945
Alle drei Personen sind bei einem Bombenangriff am 15.01.1945 ums Leben gekommen.
Die Grabstelle befindet sich am
Friedhof Stadlau (Gruppe: ML, Nummer: 77).
Quelle: Text www.nikles.net, Wiener Tierärztliche Monatsschrift 1928, Hauptteil, Seite 733-737, Bilder: www.nikles.net, Wiener Tierärztliche Monatsschrift 1928, Hauptteil, Seite 733, Neues Wiener Tagblatt (Tages-Ausgabe) vom 3.2.1945, Seite 4.