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Die Bundeshauptstadt

Zelluloid-Katastrophe 1908 in Ottakring

Die Zelluloid-Katastrophe ereignete sich am 6. Juni 1908 und war eine Explosion in der Zelluloidfabrik der Brüder Sailer in der Roseggergasse 16, nächst der Tramwaystation Thaliastraße, im 16. Wiener Gemeindebezirk Ottakring. Die Explosion forderte 18 Todesopfer und um die 20 Verletzte. Fünfzehn der getöteten Hilfarbeiterinnen und Hilfsarbeiter wurden in einer gemeinsamen Grabstelle am Ottakringer Friedhof beerdigt. Frau Marie Formanek wurde in einem eigenen Grab am Ottakringer Friedhof, die 15-jährige Marie Huber am Hernalser Friedhof und die Schwester des Fabriksinhabers, Frau Pauline Sailer, am Zentralfriedhof beerdigt.

Die Brüder Sailer waren ein Familienunternehmen, das sich auf die Verarbeitung von Zelluloid spezialisiert hat. Zelluloid war ein frühes thermoplastisches Polymer, das in den späten 1800er und frühen 1900er Jahren weit verbreitet war. Es wurde für eine Vielzahl von Produkten verwendet, darunter Kämme, Spielzeug und Knöpfe. Die Fabrik war ein wichtiger Arbeitgeber in Wien und trug zur Industrialisierung der Stadt bei.

Maßgeblich an der Brandbekämpfung beteiligt war der Feuerwehrkommandant Karl Kantner (1850-1925), sein Stellvertreter Philipp De Ponti (1842-1918), sowie die Zugskommandanten Mathias Steinbauer (1847-1923) und Johann Mendel (1856-1924).

Die 18 Opfer waren (laut Inschrift des Grabsteines):
AUFNER Anna, 19 Jahre, 16., Wilhelminenstraße Nr. 25, Hilfsarbeiterin
BLAHUSCHEK Anton, 17 Jahre, 16., Koppstraße Nr. 131, Hilfsarbeiter
ECKER Karoline, 24 Jahre, 16., Lorenz Mandlgasse Nr. 45, Hilfsarbeiterin
ENGELBERGER Anna, 15 Jahre, 16., Hasnerstraße Nr. 148, Hilfsarbeiterin
HAMERAL (HAMMERAL) Rosa, 22 Jahre, 16., Ottakringer Straße Nr. 232, Hilfsarbeiterin
HÄRTING (HERTING) Franziska, 16 Jahre, 16., Koppstraße Nr. 150, Hilfsarbeiterin
HIPFINGER Stefanie, 15 Jahre, 16., Sulmgasse Nr. 13A, Hilfsarbeiterin
HUBER Marie, 15 Jahre, 16., Koppstraße Nr. 150, Hilfsarbeiterin
HUMMER Emma, 15 Jahre, 16., Koppstraße Nr. 172, Hilfsarbeiterin
MOSER Anna, 30 Jahre, verh., Maroltingergasse Nr. 55, Hilfsarbeiterin
POPULORUM Hermann, 42 Jahre, 16., Enekelgasse 28, Hilfsarbeiter
LACHNIK Franziska, 47 Jahre, Witwe, 16., Gablenzgasse Nr. 5, Hilfsarbeiterin
SCHNATTINGER (lt. Arbeiter Zeitung auch: SCHMITTINGER) Johann, 60 Jahre, 6., Meravigliagasse Nr.3, Hilfsarbeiter
STEPANEK Karl, 25 Jahre, ledig, 16., Seitenberggasse Nr. 15, Hilfsarbeiter
WOLFSCHÜTZ Maria, 17 Jahre, 16., Degengasse Nr. 67, Hilfsarbeiterin

FORMANEK Marie, 47 Jahre, Thaliastraße Nr. 138, Ottakringer Friedhof, Gruppe: 11, Reihe: 7, Nummer: 21, Bestattungsdatum: 10.06.1908
HUBER Marie, 15 Jahre, 16., Koppstraße Nr. 150, Hernalser Friedhof
SAILER Pauline (Paula), Schwester von Fabriksinhaber, 27 Jahre, ledig, Zentralfriedhof

Die weitere Inschrift lautet:
Den Opfern der Zelluloidkatastrophe
6. Juni 1908
Die Gemeinde Wien

Arbeiter Zeitung vom 10.6.1908, Seite 6: Die Explosionskatastrophe in Ottakring. Obwohl nun schon drei Tage seit der furchtbaren Katastrophe vergangen sind, die Erregung und Verbitterung darüber, daß sie möglich war, hat sich noch nicht gelegt; im Gegenteil, sie ist im Wachsen und jede neue Entdeckung über die wahrhaft grauen­haften Zustände führt ihr neue Nahrung zu. Das stärkste Wort, was von all diesen Vor­schriften, Kommissionierungen und Kommissionen zu halten ist, fiel wohl in einer außer­ordentlichen Sitzung der Bezirksvertretung Ottakring, wo das vom Bezirksausschuß entsendete Kommissionsmitglied mitteilte, daß sich einmal die Kommission gefürchtet habe, in den Keller zu gehen. An der Wahr­heit dieser Mitteilung ist nicht zu zweifeln. Was soll man aber von einer solchen Kommission halten und welches Vertrauen können Arbeiter in Kommissionen setzen, die selbst so wenig Vertrauen in die Vorschriften haben, die sie selbst erlassen haben. In der heutigen Parlamentssitzung werden die Abgeordneten Ottakrings, die Genossen Schuhmeier und David, eine Interpellation einbringen. Die Trauerversammlung im Ottakringer Arbeiter­heim gestaltete sich zu einer mächtigen Kundgebung der Ottakringer Arbeiter und Arbeiterinnen.

Nochmals die Entstehungsursache. Aus der Umgebung des Herrn Sailer tauchte schon Samstag die „Vermutung* auf, daß der Brand dadurch entstanden sein könnte, daß ein Arbeiter geraucht habe. Darauf gibt die Polizei im Wege der Korrespondenz Wilhelm folgende Antwort: Die meisten Zeugenaussagen der Arbeiter stimmen darin überein, daß die Katastrophe im Keller ihren Ausgangspunkt genommen hat. Im Keller weilten um 1/2 10 Uhr Vormittags der Werkführer Katzenschlager und die Arbeiter Kotnik und Blahousek, die gelieferte Ware übernommen hatten. Katzenschlager ging dann aus dem Keller und kam später nochmals hinab, da ihm die Arbeiter zu lange blieben. Er rief ihnen zu: „Was macht Ihr denn? Kommt doch hinauf!* Dann begaben sich Katzenschlager und Kotnik, der erwiesenermaßen kein Raucher war, hinauf. Ob Blahousek, der leidenschaftlich rauchte, die strengen geltenden Vorschriften übertreten, kann durchaus nicht behauptet werden. Die Wahrheit wird wohl diesbezüglich nie erforscht werden können, da der Mann der Katastrophe zum Opfer fiel. Die Vorschriften gegen das Rauchen im ganzen Fabriksbereich wurden sehr streng gehandhabt und die Fabriksbesitzer drohten jedem Arbeiter, der — auch im Klosett — beim Rauchen überrascht wurde, unnachsichtlich mit der Polizei. Daß die Exhaustoren bei der Ausbreitung des Brandes eine Hauptrolle spielten, muß nach dem Stand der Dinge angenommen werden. Der vielseitig gemachte Vorwurf, daß die Säcke mit dem Zelluloidstaub nicht stündlich entleert wurden, wie es die Vorschrift verlangte, wird von den Fabriks­herren und von Arbeitern dadurch als hinfällig erklärt, weil bei der Stagnation in der Erzeugung viel zu wenig Staub durch die Exhaustoren abgegangen sein soll, als daß er einen Bruchtell des Sackes gefüllt hätte. Auch die Version, daß der Brand in der Fräserei entstanden ist, wird kolportiert, ohne bewiesen werden zu können. Es ist möglich, daß eine Arbeiterin einen Zelluloidgegenstand so lange an der Drehbank gehalten hat, bis sich Funken entwickelten. Es kann dann dieser Gegenstand von den starke Zugluft entwickelnden Exhaustoren in den Schlauch aufgesaugt worden sein und die Staubteilchen längs aller Schläuche in Brand gesetzt haben, obwohl auch die Schläuche mehrmals im Tag gereinigt wurden. Im Hofe befand sich eine Mistgrube; daß sich von dort aus der Brand ent­wickelt hat, ist ausgeschlossen, da in die Mistgrube lediglich Filzabfälle und Spülwasser kamen. (Was nebenbei gesagt unrichtig ist. Es kam der mit Ziegelmist und Filzabfällen vermengte Zelluloidstaub in die Mistgrube und vornehmlich dieser, A. d. Red.). Nach dieser Darstellung haben also die Herren Sailer, die gar zu gern der blinden Profitsucht der Unter­nehmer den Leichtsinn der Arbeiter gegenüberstellen möchten, mit ihren Vermutungen wenig Glück.

Die Stimme eines Fachkundigen. Ein Techniker schreibt uns: Unter dein Eindruck der furchtbaren Katastrophe drängt sich wohl jedem Techniker die Frage nach der Ursache dieses entsezlichen Unfalles auf. Ist Unvorsichtigkeit des mit dem feuergefährlichen Material hantierenden Personals die Ursache, oder sind es unzureichende Schußmaßregeln, oder spielte ein böser Zufall mit? Soweit die Zeitungsberichte ein Bild von der Katastrophe geben, kann Unvorsichtigkeit der Arbeiter als ausgeschlossen gelten, nachdem das Personal der Firma Sailer sich nicht allein der Gefährlichkeit des zu ver­arbeitenden Rohmaterials bewußt war, sondern durch wiederholte vorhergehende Unglücksfälle in einer gewissen steten Vorbereitung auf weitere Unfälle lebte. Welche Schutzmaßregeln hätten nun diese Katastrophe vermeiden können? Dem Techniker fällt beim Lesen der Vermutungen über die Brandursache sofort auf, daß der Exhaustor *) trocken arbeitete, das heißt daß der abgesaugte feuergefährliche Zelluloidstaub nicht unter Wasser gesetzt wurde. Wenn man bedenkt, daß durch die stete Reibung der Staubteilchen aneinander und an den Wandungen der einzelnen Saugrohre des Exhaustors diese Staubteilchen stark elektrisch geladen werden, so kann man sich unschwer die Wirkung vorstellen, die bei einer eventuellen elektrischen Entladung, die bekanntlich unter Funkenbildung stattfindet, vor sich gehen muß. Daraus ist die gebläseartige Stichflamme zu erklären, die bei Ausbruch des Brandes alles in der Nähe Befindliche sofort zerschmolz, denn die Temperatur dieser Flamme betragt 1500 bis 1600 Grad Celsius. Die Technik verhindert derartige Staub­entzündungen in einfachster Weise durch Anbringung feiner Wasserbrausen innerhalb der Absaugrohre, so daß der ab­gesaugte Staub sofort niedergeschlagen und ständig unter Wasser abgeschwemmt wird, wobei der so abgeführte Staub durch späteres Trocknen der Wiederverarbeitung nicht verloren geht. Die Anbringung einfacher Wasser­brausen hätte also die entsetzliche Katastrophe verhindert. Beantwortet man sich unter dem eben geschilderten Gesichtspunkt die Frage nach dem oder den Schuldigen dieses Unglücks, so kommt man zu zwei Schlüssen: Die in der großen Praxis stehenden Bau- und Maschinentechniker sowie jeder erfahrene Industrielle wissen längst, daß die üblichen kommissionellen Begehungen, von welchen die Erteilung der Betriebsbewilligung abhängt, selten einen wirklich praktischen Wert haben. Sie werden als eine notwendige Formsache hingenommen und gewöhnlich sorgt der gewissenhafte Fabrikant, der seinen Betrieb genau kennt, besser für die Sicherheit seiner Bediensteten, als die behördlichen Vorschriften es vermögen. Es muß einmal offen und ohne Scheu gesagt werden, daß unsere kominissionellen Begehungen so lange keinen Wert haben, als nicht zu den einzelnen Branchen wirkliche und erfahrene Fachleute aus der großen Praxis herangezogen werden. Es ist gewiß nicht einerlei, wenn fast nach demselben Amtsschimmel heute ein Pferdestall und morgen eine Zelluloidfabrik genehmigt wird, wobei den bestehenden Gesetzen Genüge geschieht, wenn die Trinkwasser- und Abortanlagen in Ordnung und Luft und Licht genügend vorhanden sind. Es liegt daher ein großer Teil der Schuld an der fachlichen Zusammensetzung der Kommissionen und darum sei an dieser Stelle die öffentliche Anregung gegeben, künftighin wirkliche Fachleute den Kommissionen beizugeben. Der zweite Schluß nach den Schuldtragenden ergibt sich aus der Betrachtung, daß die Inhaber der Fabrik aus eigener Erfahrung schon längst die nasse Staubabführung hätten einführen müssen, auch wenn eine unsachverständige Kommission dies nicht vorgeschrieben hat. Was soll es nützen, wenn sogar die Briefträger gegen Unfall versichert sind, während ganz einfache und naheliegende Vorsichts­maßregeln außer acht bleiben? Karl Reitmayer.

Dr. Lueger über die Katastrophe. Die Rathauskorrespondenz meldet: Mehreren Ver­tretern der Wiener Tagesblätter gegenüber äußerte sich der Bürgermeister wegen einer Hilfsaktion folgendermaßen: Wir werden helfen, soweit es der Gemeinde möglich ist, aber wir werden auch schauen, daß jene Faktoren heran­gezogen werden, die eventuell an diesem Unglück Schuld tragen. Ich bin froh, daß die Gemeinde Wien da keine Verantwortung trifft, das wäre ein zweiter „Newald*. Es ist ganz unglaublich, in einer verbauten Gegend eine Fabrik zu errichten, in der die Leute wie in einer Mausefalle gefangen sind. Im weiten Verlauf äußerte Dr. Lueger: Ich würde Zelluloidfabriken in der Stadt Wien über­haupt nicht mehr dulden. Nach dem, was wir jetzt zum drittenmal so Gräßliches erlebt haben, muß man wohl sagen: Wenn man bei einem Theater so weitgehende Vorsichtsmaßregeln trifft, so kann eine solche Fabrik nur gebaut werden, die eben­erdig ist und eigentlich nur aus Türen besteht. Man behauptet, es soll dort ein Arbeiter im Keller geraucht haben. Ob das wahr ist, wird man nie eruieren können, denn der Mann ist tot. Aber gewiß ist das eine, daß Leute, die stetig mit der Gefahr umgehen, oft auch sehr leichtsinnig werden. Das Feuerwehrkommando hat dem Magistrat, beziehungsweise dem Bürgermeister bereits einen ausführlichen Bericht übermittelt, der jedoch nur die Tätigkeit der Feuerwehr auf dem Brandplatz zum Inhalt hat. Die Entstehungsursache konnte bisher nicht ermittelt werden. Der Magistrat hat sämtliche Akten, die sich auf feuerpolizeiliche Aktionen für das verbrannte Gebäude beziehen, requirieren lassen und auf Grund dieser wird dem Bürgermeister ein Bericht erstattet werden. Die letzte feuerpolizeiliche Revision der Fabrik fand am 28. März d. J. statt. Auch dieser Bericht wird vom Magistrat ein­gefordert werden.

Anklagen der Bezirksvertretung Ottakring. Aus Anlaß der furchtbaren Explosionskatastrophe in der Zelluloidfabrik der Gebrüder Sailer in Ottakring hat Bezirksvorsteher Hofinger von Ottakring für gestern Vormittags eine außerordentliche Sitzung der Bezirksvertretung Ottakring einberufen, in der er zunächst den Gefühlen der Trauer Ausdruck gab, dann aber fortfuhr: „Bei diesem Anlaß kann ich nicht umhin, und ich glaube, dies in vollem Einverständnis mit Ihnen, meine sehr geehrten Herren, sagen zu können, meinem tiefsten Bedauern Ausdruck zu verleihen, daß leider den wohlgemeinten Anträgen der Bezirksvertretung von den maßgebenden staat­lichen Behörden nicht jene Würdigung zuteil wird, die ihnen als Ausfluß der Wünsche und Forderungen der Bevölkerung zukommen sollte. Auch bei diesem Unglücksfall hat es sich neuerdings ge­zeigt, daß nur durch die Nichtbeachtung der eindringlichen Warnung der Bezirks­vertretung, die wiederholt gegen die Errichtung in einem dicht verbauten Teile des Bezirkes, insbesondere aber gegen die Art des Betriebes der Zelluloidfabrik im XVI. Bezirk in entschiedener Weise Stellung nahm, das Unglück ermöglicht wurde. Die Bezirksvertreter von Ottakring teilen Sie berechtigte Entrüstung der Bevölkerung wegen der fortgesetzten Nicht­beachtung ihrer das Interesse der Allgemeinheit wahrnehmenden Entschließungen. Sie sprechen die Er­wartung aus, daß die staatlichen Behörden durch dieses furchtbare Memento endlich zur Einsicht gelangen mögen, daß den Wünschen der Bevölkerung, die sie durch ihre be­rufenen, freigewählten Vertreter zum Ausdruck bringt, endlich Rechnung getragen werde."

Die Kommission fürchtet sich. Bezirksrat Heffenmeyer erstattete sodann den Bericht über verschiedene Kommissionen, denen er als Delegierter der Bezirksvertretung in der Sailerschen Fabrik beigewohnt hatte. Er wies in ein­gehender Welse nach, daß er auf alle die Mißstände, die jetzt die Katastrophe zu einer so furchtbaren gestalteten, schon damals aufmerksam gemacht habe, jedoch vergebens. Lebhaftes Aufsehen rief seine Mitteilung hervor, daß bei einer Kommission die Kommissionsmitglieder sich fürchteten, in den Keller zu gehen, in dem viel Zelluloid eingelagert war und indem infolge der dort herrschenden Finsternis ständig bei Beleuchtung manipuliert werden mußte. Ihm (Redner) habe man sogar, als er immer wieder auf die Uebelstände hinwies, den Vorwurf gemacht, er wolle anscheinend den Geschäftsmann Sailer, der so viel Geld für die Sicherheitsanlagen in seiner Fabrik ausgegeben habe, erwürgen. Die Bezirks­vertretung habe auf jeden Fall ihrer Pflicht Genüge getan und es sei nur tief bedauerlich, daß man ihren Warnungen kein Gehör geschenkt habe.

Wie die Zentralstellen das öffentliche Interesse wahren. Die Erzeugung von Zelluloidwaren gehört in die Kategorie jener Gewerbe, deren Betriebsanlagen die behördliche Genehmigung im Sinne des § 25 der Gewerbeordnung erfordern. Das Handelsministerium ist sogar ermächtigt, im Einvernehmen mit dem Minister des Innern nach Anhörung der Handels- und Gewerbe­kammer die Betriebe, in denen Zelluloidwaren erzeugt werden, unter die im § 27 der Gewerbeordnung aufgezählten Betriebe einzureihen, deren Anlagen nur genehmigt werden dürfen, wenn die erforderlichen Beschreibungen und Zeichnungen der Gewerbebehörde vor­gelegt wurden. Das Handelsministerium hat es bisher unterlassen, trotz der besonderen Gefährlichkeit die Betriebs­anlagen in der Zelluloidwarenerzeugung den besonderen Vorschriften der Paragraphen 27 bis 30 der Gewerbeordnung zu unterstellen. Diese Unterlassung zeigt schon an und für sich, wie gleichgiltig der Arbeiterschutz den berufenen Ministerien ist. Die Zelluloidwaren­erzeugung gefährdet aber auch die Nachbarschaft. Darüber sagt die Entscheidung des Verwaltungs­gerichtshofes vom 7. Juni 1905, Z. 3621: „Die Nichtgefährdung und Nichtbelästigung der Nachbarschaft einer gewerblichen Betriebsanlage liegt im öffentlichen Interesse, dessen Wahrung und Schutz nach § 25 in die Hände der Gewerbebehörde gegeben ist, welche, dieses öffentliche Interesse, wenn sie die Nachbarschaft als gefährdet und belästigt erkennt, auch dann von Amtswegen zu wahren hat, wenn selbst ein spezielles, aus­drückliches Begehren der Nachbarschaft um einen solchen Schutz nicht vorliegt." Da diese Entscheidung schon die „Nichtbelästigung der Nachbarschaft" im öffentlichen Interesse gelegen erachtet, tritt die Leichtfertigkeit und die Frivolität sowohl der niederösterreichischen Statthalterei als auch des Handelsministeriums klar zu Tage, die dem Rekurs der Brüder Sailer gegen die Entscheidung des Magistratischen Bezirksamtes Folge gaben und die Anlage bewilligten. Die Bemerkung der Statthalterei, daß durch die angeordneten Maßnahmen die Gefahr für die Umgebung und für die im Betrieb beschäftigten Arbeiter auf ein solches Maß herabgemindert wird, daß von einer be­sonderen durch die Art der Anlage bedingten Gefahr „kaum gesprochen werden könne", beweist am besten, wie das öffentliche Interesse, dessen Wahrung die angezogene Ent­scheidung fordert, tatsächlich von den obersten Instanzen gewahrt wird.

Das Leichenbegängnis. In der Totenkammer des Ottakringer Friedhofes wurden gestern von 12 Uhr Mittags bis 3 Uhr Nachmittags die Leichen der unglücklichen Opfer der Zelluloidkatastrophe in der Sailer­'schen Fabrik eingesargt. Danach erfolgte auf Kosten der Gemeinde Wien die Aufbahrung in der Friedhofkapelle und, da diese nicht ausreichte, in dem hiezu adaptierten Vorraum zur Kapelle, der der Trauer entsprechend dekoriert wurde. Auf den Särgen häufen sich die Kranzspenden. In den Ecken der schwarz ausgeschlagenen Kapelle stehen vier große Kandelaber mit Kerzen. Auch der Vorraum ist schwarz ausspaliert und hell erleuchtet. Mittwoch um 1/2 5 Uhr Nachmittags erfolgt in der Kapelle die feierliche Einsegnung der unglücklichen Opfer. Sie werden dann in dem gemeinsamen, von der Kommune Wien gewidmeten Ehrengrab beigesetzt. Drei von den achtzehn Opfern werden nicht gemeinsam mit den fünfzehn übrigen bei­gesetzt, und zwar wird Marie Formanek schon um 2 Uhr Nachmittags in einem eigenen Grabe im Ottakringer Friedhof beigesetzt. Die 15jährige Marie Huber wird in einem eigenen Grabe im Hernalser Friedhof beerdigt und die Schwester, Sailers, Pauline Sailer, wird um 1/2 3 Uhr im Zentralfriedhof bestattet.

Die Vezirksausschußmitglieder von Ottakring treffen sich heute um 3 Uhr im Bezirkssekretariat zum gemeinsamen Abmarsch.

Spenden. Der Kaiser hat für die Hinterbliebenen der Opfer 6000 Kronen aus seinen Privatmitteln gespendet. Der Minister des Innern übergab zum gleichen Zwecke dem Polizeipräsidenten 1000 Kronen.

Illustrierte Kronen Zeitung vom 17.6.1908, Seite 12: Letzten Sonntag fand eine wahre Völkerwanderung zum Massengrabe der Opfer der Zelluloid-Katastrophe statt. Der einfache Grabhügel, unter dem so viele Opfer der Arbeit ruhen, war mit den vielen Kränzen bedeckt, welche Mitgefühl und treues Erinneren den unglücklichen Todesopfern gespendet hatten.

Im Jahr 1943 ist wieder eine Zelluloidwarenfabrik Sailer in Wien nachweisbar:
Anton Sailer: Fabrikation von Zelluloidwaren und Massenartikeln. Wien XIV/89, Meiselstraße 75. Telefon U32420.

Exhaustor: Ein Exhaustor (lat. "erschöpfen") ist ein allgemeiner Begriff für einen Absaug- oder Ansaugapparat, der hauptsächlich zum Absaugen von Dampf, Staub oder anderen gasförmigen Medien verwendet wird. Er kann in verschiedenen Bereichen Anwendung finden, wie beispielsweise in der Lebensmittelindustrie (zum Exhaustieren von Konserven), in der Zoologie (zum Fang von Insekten) oder in der Industrie (zum Absaugen von Abgasen oder zum Erzeugen von Unterdruck). (Quelle: Google KI)

Die Grabstelle (auf Friedhofsdauer) befindet sich am Ottakringer Friedhof (Gruppe NK, Reihe 11, Nummer 1-5).

Quelle: Text: www.nikles.net, Bilder: www.nikles.net, Arbeiter Zeitung vom 10.6.1908, Seite 6, Illustrierte Kronen Zeitung vom 17.6.1908, Seite 12.



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