Zelluloid-Katastrophe 1908 in Ottakring
Die Zelluloid-Katastrophe ereignete sich am 6. Juni 1908 und war eine Explosion in der Zelluloidfabrik der Brüder Sailer
in der Roseggergasse 16, nächst der Tramwaystation Thaliastraße, im 16. Wiener Gemeindebezirk
Ottakring.
Die Explosion forderte 18 Todesopfer und um die 20 Verletzte.
Fünfzehn der getöteten Hilfarbeiterinnen und Hilfsarbeiter wurden in einer gemeinsamen Grabstelle am
Ottakringer Friedhof beerdigt.
Frau Marie Formanek wurde in einem eigenen Grab am
Ottakringer Friedhof,
die 15-jährige Marie Huber am
Hernalser Friedhof und die Schwester des Fabriksinhabers,
Frau Pauline Sailer, am
Zentralfriedhof beerdigt.
Die Brüder Sailer waren ein Familienunternehmen, das sich auf die Verarbeitung von Zelluloid spezialisiert hat.
Zelluloid war ein frühes thermoplastisches Polymer, das in den späten 1800er und frühen 1900er Jahren weit verbreitet war.
Es wurde für eine Vielzahl von Produkten verwendet, darunter Kämme, Spielzeug und Knöpfe.
Die Fabrik war ein wichtiger Arbeitgeber in Wien und trug zur Industrialisierung der Stadt bei.
Maßgeblich an der Brandbekämpfung beteiligt war der Feuerwehrkommandant
Karl Kantner (1850-1925),
sein Stellvertreter Philipp De Ponti (1842-1918), sowie die Zugskommandanten Mathias Steinbauer (1847-1923) und Johann Mendel (1856-1924).
Die 18 Opfer waren (laut Inschrift des Grabsteines):
AUFNER Anna, 19 Jahre, 16., Wilhelminenstraße Nr. 25, Hilfsarbeiterin
BLAHUSCHEK Anton, 17 Jahre, 16., Koppstraße Nr. 131, Hilfsarbeiter
ECKER Karoline, 24 Jahre, 16., Lorenz Mandlgasse Nr. 45, Hilfsarbeiterin
ENGELBERGER Anna, 15 Jahre, 16., Hasnerstraße Nr. 148, Hilfsarbeiterin
HAMERAL (HAMMERAL) Rosa, 22 Jahre, 16., Ottakringer Straße Nr. 232, Hilfsarbeiterin
HÄRTING (HERTING) Franziska, 16 Jahre, 16., Koppstraße Nr. 150, Hilfsarbeiterin
HIPFINGER Stefanie, 15 Jahre, 16., Sulmgasse Nr. 13A, Hilfsarbeiterin
HUBER Marie, 15 Jahre, 16., Koppstraße Nr. 150, Hilfsarbeiterin
HUMMER Emma, 15 Jahre, 16., Koppstraße Nr. 172, Hilfsarbeiterin
MOSER Anna, 30 Jahre, verh., Maroltingergasse Nr. 55, Hilfsarbeiterin
POPULORUM Hermann, 42 Jahre, 16., Enekelgasse 28, Hilfsarbeiter
LACHNIK Franziska, 47 Jahre, Witwe, 16., Gablenzgasse Nr. 5, Hilfsarbeiterin
SCHNATTINGER (lt. Arbeiter Zeitung auch: SCHMITTINGER) Johann, 60 Jahre, 6., Meravigliagasse Nr.3, Hilfsarbeiter
STEPANEK Karl, 25 Jahre, ledig, 16., Seitenberggasse Nr. 15, Hilfsarbeiter
WOLFSCHÜTZ Maria, 17 Jahre, 16., Degengasse Nr. 67, Hilfsarbeiterin
FORMANEK Marie, 47 Jahre, Thaliastraße Nr. 138,
Ottakringer Friedhof, Gruppe: 11, Reihe: 7, Nummer: 21, Bestattungsdatum: 10.06.1908
HUBER Marie, 15 Jahre, 16., Koppstraße Nr. 150,
Hernalser Friedhof
SAILER Pauline (Paula), Schwester von Fabriksinhaber, 27 Jahre, ledig,
Zentralfriedhof
Die weitere Inschrift lautet:
Den Opfern der Zelluloidkatastrophe
6. Juni 1908
Die Gemeinde Wien
Arbeiter Zeitung vom 10.6.1908, Seite 6:
Die Explosionskatastrophe in
Ottakring.
Obwohl nun schon drei Tage seit der furchtbaren
Katastrophe vergangen sind, die Erregung und
Verbitterung darüber, daß sie möglich war, hat sich
noch nicht gelegt; im Gegenteil, sie ist im Wachsen
und jede neue Entdeckung über die wahrhaft grauenhaften
Zustände führt ihr neue Nahrung zu. Das
stärkste Wort, was von all diesen Vorschriften,
Kommissionierungen und Kommissionen
zu halten ist, fiel wohl in einer außerordentlichen
Sitzung der Bezirksvertretung
Ottakring,
wo das vom Bezirksausschuß entsendete
Kommissionsmitglied mitteilte, daß sich einmal
die Kommission gefürchtet habe,
in den Keller zu gehen. An der Wahrheit
dieser Mitteilung ist nicht zu zweifeln. Was soll
man aber von einer solchen Kommission halten und
welches Vertrauen können Arbeiter in Kommissionen
setzen, die selbst so wenig Vertrauen in die Vorschriften
haben, die sie selbst erlassen haben.
In der heutigen Parlamentssitzung werden die
Abgeordneten
Ottakrings, die Genossen Schuhmeier
und David, eine Interpellation einbringen.
Die Trauerversammlung im Ottakringer Arbeiterheim
gestaltete sich zu einer mächtigen Kundgebung der
Ottakringer Arbeiter und Arbeiterinnen.
Nochmals die Entstehungsursache.
Aus der Umgebung des Herrn Sailer tauchte schon
Samstag die „Vermutung* auf, daß der Brand dadurch
entstanden sein könnte, daß ein Arbeiter geraucht habe.
Darauf gibt die Polizei im Wege der Korrespondenz
Wilhelm folgende Antwort: Die meisten Zeugenaussagen
der Arbeiter stimmen darin überein, daß die Katastrophe
im Keller ihren Ausgangspunkt genommen hat. Im
Keller weilten um 1/2 10 Uhr Vormittags der Werkführer
Katzenschlager und die Arbeiter Kotnik und
Blahousek, die gelieferte Ware übernommen hatten.
Katzenschlager ging dann aus dem Keller und kam
später nochmals hinab, da ihm die Arbeiter
zu lange blieben. Er rief ihnen zu: „Was macht
Ihr denn? Kommt doch hinauf!* Dann begaben sich
Katzenschlager und Kotnik, der erwiesenermaßen kein
Raucher war, hinauf. Ob Blahousek, der leidenschaftlich
rauchte, die strengen geltenden Vorschriften übertreten,
kann durchaus nicht behauptet werden.
Die Wahrheit wird wohl diesbezüglich nie erforscht werden
können, da der Mann der Katastrophe zum Opfer fiel. Die
Vorschriften gegen das Rauchen im ganzen Fabriksbereich
wurden sehr streng gehandhabt und die Fabriksbesitzer
drohten jedem Arbeiter, der — auch im Klosett — beim
Rauchen überrascht wurde, unnachsichtlich mit der Polizei.
Daß die Exhaustoren bei der Ausbreitung
des Brandes eine Hauptrolle spielten,
muß nach dem Stand der Dinge angenommen werden.
Der vielseitig gemachte Vorwurf, daß die Säcke mit dem
Zelluloidstaub nicht stündlich entleert wurden,
wie es die Vorschrift verlangte, wird von den Fabriksherren
und von Arbeitern dadurch als hinfällig erklärt,
weil bei der Stagnation in der Erzeugung viel zu wenig
Staub durch die Exhaustoren abgegangen sein soll, als
daß er einen Bruchtell des Sackes gefüllt hätte.
Auch die Version, daß der Brand in der Fräserei
entstanden ist, wird kolportiert, ohne bewiesen werden zu
können. Es ist möglich, daß eine Arbeiterin einen
Zelluloidgegenstand so lange an der Drehbank gehalten
hat, bis sich Funken entwickelten. Es kann dann dieser
Gegenstand von den starke Zugluft entwickelnden
Exhaustoren in den Schlauch aufgesaugt worden sein und
die Staubteilchen längs aller Schläuche in Brand gesetzt
haben, obwohl auch die Schläuche mehrmals
im Tag gereinigt wurden. Im Hofe befand
sich eine Mistgrube; daß sich von dort aus der Brand entwickelt
hat, ist ausgeschlossen, da in die Mistgrube lediglich
Filzabfälle und Spülwasser kamen. (Was nebenbei gesagt
unrichtig ist. Es kam der mit Ziegelmist und Filzabfällen
vermengte Zelluloidstaub in die Mistgrube und vornehmlich
dieser, A. d. Red.).
Nach dieser Darstellung haben also die Herren
Sailer, die gar zu gern der blinden Profitsucht der Unternehmer
den Leichtsinn der Arbeiter gegenüberstellen
möchten, mit ihren Vermutungen wenig Glück.
Die Stimme eines Fachkundigen.
Ein Techniker schreibt uns: Unter dein Eindruck der
furchtbaren Katastrophe drängt sich wohl jedem Techniker
die Frage nach der Ursache dieses entsezlichen Unfalles
auf. Ist Unvorsichtigkeit des mit dem feuergefährlichen
Material hantierenden Personals die Ursache, oder sind es
unzureichende Schußmaßregeln, oder spielte ein böser Zufall
mit? Soweit die Zeitungsberichte ein Bild von der
Katastrophe geben, kann Unvorsichtigkeit der Arbeiter als
ausgeschlossen gelten, nachdem das Personal der Firma
Sailer sich nicht allein der Gefährlichkeit des zu verarbeitenden
Rohmaterials bewußt war, sondern durch
wiederholte vorhergehende Unglücksfälle in einer gewissen
steten Vorbereitung auf weitere Unfälle lebte.
Welche Schutzmaßregeln hätten nun diese Katastrophe
vermeiden können? Dem Techniker fällt beim Lesen der
Vermutungen über die Brandursache sofort auf, daß der
Exhaustor *) trocken arbeitete, das heißt daß der
abgesaugte feuergefährliche Zelluloidstaub
nicht unter Wasser gesetzt wurde.
Wenn man bedenkt, daß durch die stete Reibung der
Staubteilchen aneinander und an den Wandungen der
einzelnen Saugrohre des Exhaustors diese Staubteilchen
stark elektrisch geladen werden, so kann man sich unschwer die
Wirkung vorstellen, die bei einer eventuellen elektrischen
Entladung, die bekanntlich unter Funkenbildung stattfindet,
vor sich gehen muß. Daraus ist die gebläseartige
Stichflamme zu erklären, die bei Ausbruch des
Brandes alles in der Nähe Befindliche sofort zerschmolz,
denn die Temperatur dieser Flamme betragt 1500 bis
1600 Grad Celsius.
Die Technik verhindert derartige Staubentzündungen
in einfachster Weise durch Anbringung
feiner Wasserbrausen innerhalb
der Absaugrohre, so daß der abgesaugte
Staub sofort niedergeschlagen
und ständig unter Wasser abgeschwemmt
wird, wobei der so abgeführte Staub durch späteres
Trocknen der Wiederverarbeitung nicht verloren geht.
Die Anbringung einfacher Wasserbrausen
hätte also die entsetzliche
Katastrophe verhindert.
Beantwortet man sich unter dem eben geschilderten
Gesichtspunkt die Frage nach dem oder den Schuldigen
dieses Unglücks, so kommt man zu zwei Schlüssen:
Die in der großen Praxis stehenden Bau- und
Maschinentechniker sowie jeder erfahrene Industrielle wissen
längst, daß die üblichen kommissionellen
Begehungen, von welchen die Erteilung der
Betriebsbewilligung abhängt, selten einen wirklich
praktischen Wert haben. Sie werden als eine
notwendige Formsache hingenommen und gewöhnlich sorgt
der gewissenhafte Fabrikant, der seinen Betrieb genau
kennt, besser für die Sicherheit seiner Bediensteten, als die
behördlichen Vorschriften es vermögen. Es muß einmal
offen und ohne Scheu gesagt werden, daß unsere kominissionellen
Begehungen so lange keinen Wert haben,
als nicht zu den einzelnen Branchen
wirkliche und erfahrene Fachleute
aus der großen Praxis herangezogen
werden. Es ist gewiß nicht einerlei, wenn fast nach
demselben Amtsschimmel heute ein Pferdestall und morgen
eine Zelluloidfabrik genehmigt wird, wobei den bestehenden
Gesetzen Genüge geschieht, wenn die Trinkwasser- und
Abortanlagen in Ordnung und Luft und Licht genügend
vorhanden sind. Es liegt daher ein großer Teil der Schuld
an der fachlichen Zusammensetzung der
Kommissionen und darum sei an dieser Stelle die
öffentliche Anregung gegeben, künftighin wirkliche
Fachleute den Kommissionen beizugeben.
Der zweite Schluß nach den Schuldtragenden ergibt
sich aus der Betrachtung, daß die Inhaber der
Fabrik aus eigener Erfahrung schon
längst die nasse Staubabführung
hätten einführen müssen, auch wenn
eine unsachverständige Kommission
dies nicht vorgeschrieben hat. Was soll es
nützen, wenn sogar die Briefträger gegen Unfall versichert
sind, während ganz einfache und naheliegende Vorsichtsmaßregeln
außer acht bleiben?
Karl Reitmayer.
Dr. Lueger über die Katastrophe.
Die Rathauskorrespondenz meldet: Mehreren Vertretern
der Wiener Tagesblätter gegenüber äußerte sich
der Bürgermeister wegen einer Hilfsaktion folgendermaßen:
Wir werden helfen, soweit es der Gemeinde möglich ist,
aber wir werden auch schauen, daß jene Faktoren herangezogen
werden, die eventuell an diesem Unglück Schuld
tragen. Ich bin froh, daß die Gemeinde Wien da keine
Verantwortung trifft, das wäre ein zweiter „Newald*. Es
ist ganz unglaublich, in einer verbauten
Gegend eine Fabrik zu errichten, in
der die Leute wie in einer Mausefalle
gefangen sind. Im weiten Verlauf äußerte Dr. Lueger:
Ich würde Zelluloidfabriken in der Stadt Wien überhaupt
nicht mehr dulden. Nach dem, was wir jetzt zum
drittenmal so Gräßliches erlebt haben, muß man wohl
sagen: Wenn man bei einem Theater so weitgehende
Vorsichtsmaßregeln trifft, so kann eine solche
Fabrik nur gebaut werden, die ebenerdig
ist und eigentlich nur aus Türen
besteht. Man behauptet, es soll dort ein Arbeiter im
Keller geraucht haben. Ob das wahr ist, wird man nie
eruieren können, denn der Mann ist tot. Aber gewiß ist das
eine, daß Leute, die stetig mit der Gefahr umgehen, oft auch
sehr leichtsinnig werden. Das Feuerwehrkommando hat
dem Magistrat, beziehungsweise dem Bürgermeister bereits
einen ausführlichen Bericht übermittelt, der jedoch nur die
Tätigkeit der Feuerwehr auf dem Brandplatz zum Inhalt
hat. Die Entstehungsursache konnte bisher nicht ermittelt
werden. Der Magistrat hat sämtliche Akten, die sich auf
feuerpolizeiliche Aktionen für das verbrannte Gebäude
beziehen, requirieren lassen und auf Grund dieser wird
dem Bürgermeister ein Bericht erstattet werden. Die letzte
feuerpolizeiliche Revision der Fabrik fand am 28. März
d. J. statt. Auch dieser Bericht wird vom Magistrat eingefordert werden.
Anklagen der Bezirksvertretung Ottakring.
Aus Anlaß der furchtbaren Explosionskatastrophe in
der Zelluloidfabrik der Gebrüder Sailer in
Ottakring
hat Bezirksvorsteher Hofinger von
Ottakring für
gestern Vormittags eine außerordentliche Sitzung der Bezirksvertretung
Ottakring einberufen, in der er zunächst
den Gefühlen der Trauer Ausdruck gab, dann aber
fortfuhr:
„Bei diesem Anlaß kann ich nicht umhin, und ich
glaube, dies in vollem Einverständnis mit Ihnen, meine
sehr geehrten Herren, sagen zu können, meinem tiefsten
Bedauern Ausdruck zu verleihen, daß leider den
wohlgemeinten Anträgen der Bezirksvertretung
von den maßgebenden staatlichen
Behörden nicht jene Würdigung
zuteil wird, die ihnen als Ausfluß der Wünsche
und Forderungen der Bevölkerung zukommen sollte.
Auch bei diesem Unglücksfall hat es sich neuerdings gezeigt,
daß nur durch die Nichtbeachtung der
eindringlichen Warnung der Bezirksvertretung,
die wiederholt gegen die Errichtung in
einem dicht verbauten Teile des Bezirkes, insbesondere
aber gegen die Art des Betriebes der Zelluloidfabrik im
XVI. Bezirk in entschiedener Weise Stellung nahm, das
Unglück ermöglicht wurde. Die Bezirksvertreter
von
Ottakring teilen Sie berechtigte Entrüstung der
Bevölkerung wegen der fortgesetzten Nichtbeachtung
ihrer das Interesse der Allgemeinheit
wahrnehmenden Entschließungen. Sie sprechen die Erwartung
aus, daß die staatlichen Behörden durch dieses
furchtbare Memento endlich zur Einsicht gelangen mögen,
daß den Wünschen der Bevölkerung, die sie durch ihre berufenen,
freigewählten Vertreter zum Ausdruck bringt,
endlich Rechnung getragen werde."
Die Kommission fürchtet sich.
Bezirksrat Heffenmeyer erstattete sodann den
Bericht über verschiedene Kommissionen,
denen er als Delegierter der Bezirksvertretung in der
Sailerschen Fabrik beigewohnt hatte. Er wies in eingehender
Welse nach, daß er auf alle die Mißstände, die
jetzt die Katastrophe zu einer so furchtbaren gestalteten,
schon damals aufmerksam gemacht habe, jedoch vergebens.
Lebhaftes Aufsehen rief seine Mitteilung hervor, daß bei
einer Kommission die Kommissionsmitglieder sich
fürchteten, in den Keller zu gehen, in dem viel
Zelluloid eingelagert war und indem
infolge der dort herrschenden Finsternis
ständig bei Beleuchtung manipuliert
werden mußte. Ihm (Redner) habe man sogar,
als er immer wieder auf die Uebelstände hinwies, den
Vorwurf gemacht, er wolle anscheinend den Geschäftsmann
Sailer, der so viel Geld für die Sicherheitsanlagen in
seiner Fabrik ausgegeben habe, erwürgen. Die Bezirksvertretung
habe auf jeden Fall ihrer Pflicht Genüge getan
und es sei nur tief bedauerlich, daß man ihren Warnungen
kein Gehör geschenkt habe.
Wie die Zentralstellen das öffentliche Interesse wahren.
Die Erzeugung von Zelluloidwaren gehört in die
Kategorie jener Gewerbe, deren Betriebsanlagen die
behördliche Genehmigung im Sinne des § 25 der
Gewerbeordnung erfordern. Das Handelsministerium ist
sogar ermächtigt, im Einvernehmen mit dem Minister des
Innern nach Anhörung der Handels- und Gewerbekammer
die Betriebe, in denen Zelluloidwaren erzeugt
werden, unter die im § 27 der Gewerbeordnung
aufgezählten Betriebe einzureihen, deren Anlagen nur
genehmigt werden dürfen, wenn die erforderlichen
Beschreibungen und Zeichnungen der Gewerbebehörde vorgelegt
wurden. Das Handelsministerium
hat es bisher unterlassen, trotz der
besonderen Gefährlichkeit die Betriebsanlagen
in der Zelluloidwarenerzeugung
den besonderen Vorschriften der Paragraphen
27 bis 30 der Gewerbeordnung
zu unterstellen. Diese Unterlassung zeigt schon an
und für sich, wie gleichgiltig der Arbeiterschutz
den berufenen Ministerien ist. Die Zelluloidwarenerzeugung
gefährdet aber auch die Nachbarschaft.
Darüber sagt die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes
vom 7. Juni 1905, Z. 3621: „Die Nichtgefährdung
und Nichtbelästigung der Nachbarschaft einer
gewerblichen Betriebsanlage liegt im öffentlichen
Interesse, dessen Wahrung und Schutz nach § 25
in die Hände der Gewerbebehörde gegeben ist, welche,
dieses öffentliche Interesse, wenn sie die Nachbarschaft als
gefährdet und belästigt erkennt, auch dann von Amtswegen
zu wahren hat, wenn selbst ein spezielles, ausdrückliches
Begehren der Nachbarschaft um einen solchen
Schutz nicht vorliegt." Da diese Entscheidung schon
die „Nichtbelästigung der Nachbarschaft" im öffentlichen
Interesse gelegen erachtet, tritt die Leichtfertigkeit und die
Frivolität sowohl der niederösterreichischen Statthalterei
als auch des Handelsministeriums klar zu Tage, die dem
Rekurs der Brüder Sailer gegen die Entscheidung des
Magistratischen Bezirksamtes Folge gaben und die Anlage
bewilligten. Die Bemerkung der Statthalterei, daß durch
die angeordneten Maßnahmen die Gefahr für die Umgebung
und für die im Betrieb beschäftigten Arbeiter auf
ein solches Maß herabgemindert wird, daß von einer besonderen
durch die Art der Anlage bedingten Gefahr „kaum
gesprochen werden könne", beweist am besten, wie das
öffentliche Interesse, dessen Wahrung die angezogene Entscheidung
fordert, tatsächlich von den obersten Instanzen
gewahrt wird.
Das Leichenbegängnis.
In der Totenkammer des
Ottakringer Friedhofes wurden
gestern von 12 Uhr Mittags bis 3 Uhr Nachmittags die Leichen
der unglücklichen Opfer der Zelluloidkatastrophe in der Sailer'schen
Fabrik eingesargt. Danach erfolgte auf Kosten der Gemeinde
Wien die Aufbahrung in der Friedhofkapelle und, da
diese nicht ausreichte, in dem hiezu adaptierten Vorraum zur
Kapelle, der der Trauer entsprechend dekoriert wurde. Auf den
Särgen häufen sich die Kranzspenden. In den Ecken der schwarz
ausgeschlagenen Kapelle stehen vier große Kandelaber mit Kerzen.
Auch der Vorraum ist schwarz ausspaliert und hell erleuchtet.
Mittwoch um 1/2 5 Uhr Nachmittags erfolgt in der
Kapelle die feierliche Einsegnung der unglücklichen Opfer.
Sie werden dann in dem gemeinsamen, von der Kommune
Wien gewidmeten Ehrengrab beigesetzt. Drei von den achtzehn
Opfern werden nicht gemeinsam mit den fünfzehn übrigen beigesetzt,
und zwar wird Marie Formanek schon um 2 Uhr
Nachmittags in einem eigenen Grabe im
Ottakringer Friedhof
beigesetzt. Die 15jährige Marie Huber wird in einem eigenen
Grabe im
Hernalser Friedhof beerdigt und die Schwester,
Sailers, Pauline Sailer, wird um 1/2 3 Uhr im
Zentralfriedhof bestattet.
Die Vezirksausschußmitglieder von
Ottakring treffen sich heute um 3 Uhr im Bezirkssekretariat
zum gemeinsamen Abmarsch.
Spenden. Der Kaiser hat für die Hinterbliebenen
der Opfer 6000 Kronen aus seinen Privatmitteln gespendet.
Der Minister des Innern übergab zum gleichen
Zwecke dem Polizeipräsidenten 1000 Kronen.
Illustrierte Kronen Zeitung vom 17.6.1908, Seite 12:
Letzten Sonntag fand eine wahre Völkerwanderung zum
Massengrabe der Opfer der Zelluloid-Katastrophe
statt. Der einfache Grabhügel, unter dem so viele Opfer
der Arbeit ruhen, war mit den vielen Kränzen bedeckt,
welche Mitgefühl und treues Erinneren den unglücklichen Todesopfern gespendet hatten.
Im Jahr 1943 ist wieder eine Zelluloidwarenfabrik Sailer in Wien nachweisbar:
Anton Sailer: Fabrikation von Zelluloidwaren und Massenartikeln. Wien XIV/89, Meiselstraße 75. Telefon U32420.
Exhaustor: Ein Exhaustor (lat. "erschöpfen") ist ein allgemeiner Begriff für einen Absaug- oder Ansaugapparat, der hauptsächlich zum Absaugen von Dampf, Staub oder anderen gasförmigen Medien verwendet wird. Er kann in verschiedenen Bereichen Anwendung finden, wie beispielsweise in der Lebensmittelindustrie (zum Exhaustieren von Konserven), in der Zoologie (zum Fang von Insekten) oder in der Industrie (zum Absaugen von Abgasen oder zum Erzeugen von Unterdruck).
(Quelle: Google KI)
Die Grabstelle (auf Friedhofsdauer) befindet sich am
Ottakringer Friedhof (Gruppe NK, Reihe 11, Nummer 1-5).
Quelle: Text: www.nikles.net, Bilder: www.nikles.net, Arbeiter Zeitung vom 10.6.1908, Seite 6, Illustrierte Kronen Zeitung vom 17.6.1908, Seite 12.