Im Laufe des 17. Jahrhunderts und noch weit in der Hälfte
des folgenden war das Bierhaus "Zum Roten Dachel" auf dem
alten Fleischmarkt eine der besuchtesten Schenken von Wien.
Im Gegensatz zur Eleganz der heutigen Bierhallen bestand
dieses Schanklokal nur aus einem ziemlich großen, aber
niedrigen, rauch- und schmutzgefärbten Zimmer mit kleinen,
vergitterten Fenstern, welche von innen, bei der Dicke der
Mauern, eine Art von Aufbewahrungsort für Hüte, Mützen, dann
Bierkrüge und Gläser bildeten. Eine dieser Fensterbrüstungen
bildete das Arbeitskabinett der wohlbeleibten Wirtin; auf
einem Tischchen stand ein Arbeitskorb mit allerlei Näh- und
Strickzeug; an Lektüre fehlte es auch nicht, ein dickes
Gebetbuch lag neben dem Korb und an der Wand hing im roten
Einband der neue Warschauer Kalender.
Rings an den Wänden waren oben hölzerne, rauchige Gesimse
angebracht, an welchen graue, mit Zinndeckeln versehene
Krüge und ebenfalls bedeckte Halbe- und Seitelstutzen
hingen. Den unteren Teil der Wand umgaben hölzerne Bänke von
Ungewisser dunkler Farbe, mit an der Wand befestigten
Rückenlehnen, vor ihnen standen vier stämmige lange Tische.
Starke hölzerne Stühle mit halbrunden Rückenlehnen, in deren
Mitte ein herzförmiger Ausschnitt war, standen davor. Vor
einem halbrunden Tisch waren zur Auszeichnung für etwaige
Honoratioren vier mit braunem Leder überzogene, bereits
tüchtig abgenützte Polstersessel. In einer Ecke, neben dem
Eingang zur rauchigen Küche, war die sogenannte "Schank"
angebracht, ein käfigartiger Verschlag, dessen dicke
Holzpfeiler fast bis an die Decke reichten. Den Hintergrund
nahmen größere und kleinere Geschirre ein, die zur
Herbeibringung und zum richtigen Ausmessen des edlen
Gerstensaftes bestimmt waren und die man mit den Namen
Pirschen und Zimente bezeichnete.
In diesem Heiligtum, das kein ungeweihter Fuß betreten
durfte, trieben Wirt und Kellner ihre geheimnisvollen
Geschäfte; ersterer das Einschenken und Ankerben an einem
eigens dazu bestimmten länglichen Holze, Robisch (Kerbholz)
genannt, letzterer das Holen und Herumreichen der
erquickenden Labung.
Der Eigentümer der Schenke "Zum Roten Dachl" war um die
Mitte des siebzehnten Jahrhunderts der Bierleitgeb (Wirt)
Herr Ulrich Konrad Puffan. Zur Zeit der großen Pest in Wien,
im Sommer des Jahres 1679, hatte sich der damals sehr
beliebte und weit berühmte Sackpfeifer und Bänkelsänger
Augustin eben dieses Bierhaus zur Stätte seiner Darbietungen
erkoren und lockte alle Montage, Donnerstage und Sonntage
viele ehrsame Bürger, ja auch Honoratioren dahin, die sich
an seinen ziemlich derben Possen ergötzten und sich dabei an
Gersten- oder Weißbier, Wecken, glatten Semmeln, Cervelat-
und den schon damals beliebten Wiener Wursteln gütlich
taten.
Selbst zur Zeit, als die Pest am heftigsten wütete und die
meisten Wein- und Bierhäuser gänzlich gesperrt wurden, teils
aus Furcht von der Ansteckung ohnehin leer standen,
versammelte sich doch beim "Roten Dachel" insgeheim eine
Gesellschaft von Waghälsen, um bei dem betäubenden
Gerstensaft und den erheiternden Klängen von Augustins
Sackpfeife des allgemeinen Elends zu vergessen.
Dieser selbst aber war der Unerschrockenste von allen; er
liebte Gesellschaft und Beifall, noch mehr aber die ihm
dadurch zuströmenden Sammelpfennige, am meisten aber Bier
und Branntwein, die ihm von dem Wirt häufig und umso
bereitwilliger gespendet wurden, als es ja Augustin allein
war, der ihm in dieser traurigen Zeit noch Gäste anlockte.
Eines Abends jedoch wollte durchaus niemand erscheinen;
darüber wurde der sonst so unerschütterliche Augustin
unwillig und suchte seinen Unmut durch eine bedeutende Menge
braunen Biers zu dämpfen. Schließlich setzte er noch einen
Halbseitelstutzen Branntwein darauf und verließ endlich
wankend den Schauplatz seiner Triumphe, der ihn heute so
unbefriedigt gelassen.
Seiner sonst so außerordentlichen Lokalkenntnis für diesmal
entbehrend, stolperte er über den
Stephansplatz,
Stock-im-Eisen, Graben, Kohlmarkt zum Burgtor hinaus, doch
sein Weg hätte ihn auf die Landstraße führen sollen, wo er
in der Hahngasse ein bescheidenes Kämmerchen bewohnte. Die
freie Luft hatte seinen Zustand nicht eben gebessert; außer
der Stadt gab es auch keine Beleuchtung; daher schwankte und
stolperte er fast bewusstlos fort.
Plötzlich verlor sein ausschreitender rechter Fuß den Grund
und er fiel eine beträchtliche Höhe hinab, ohne dass er
jedoch hart aufstieß. Von einem widerlichen Geruch gequält,
schwanden ihm bald die Sinne, er fühlte kaum mehr, dass ihm
nach kurzer Zeit mehrere menschliche Körper nachstürzten und
fiel bald in tiefen Schlaf.
Als er jedoch zur Zeit der Morgendämmerung missgestimmt
erwachte, wurde er mit Schrecken gewahr, dass eine noch
nicht verschüttete Pestgrube, voll schauerlicher Leichen,
seine unheimliche Schlafstätte gewesen war.
Er schrie nun nach Leibeskräften und wurde endlich von den
Pestknechten, die bald darauf kamen, herausgezogen. Dieses
fürchterliche Abenteuer machte jedoch keinen weiteren
Eindruck auf den nervenstarken Augustin; er setzte seine
gewohnte unstete Lebensweise fort. Auch brachte er sein
schaudervolles Abenteuer in zierliche Reime, die er noch oft
unter schallendem Beifall auf der Bierbank beim "Roten
Dachel" sang. Am 17. Februar 1702 starb Augustin in einem
Alter von 72 Jahren. Im Bierhaus "Zum Roten Dachel" aber war
der alte Augustin mit seinen lustigen Liedern noch lange im
Munde aller Gäste.
Quelle: Holczabek/Winter, Sagen und Geschichten der Stadt Wien. 3. Auflage, Wien 1894., Bilder: Invisigoth67 und gemeinfrei.
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Günter Nikles
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