Kaum wird es eine Stadt im lieben deutschen Vaterlande
geben, welche so vieler Wahrzeichen sich zu erfreuen hätte
als das alte Wien. Wer kennt nicht sein edelstes, höchstes,
schönstes, den Stephansturm? Wer kennt nicht die
weitgenannte Spinnerin am Kreuz, das kunstvolle gotische
Denkmal, das von der Höhe des Wienerberges hinabschaut auf
die weithin zu des Berges Füßen reizvoll hingelagerte Stadt?
Diese Wahrzeichen allzumal sind umblüht von Sagen des
Volkes, teils heiterer, teils ernster Art, und wunderlich
sind manche dieser Denk- und Erinnerungszeichen ausgebeutet
worden. Oft versuchte sich an den einfachen Überlieferungen
aus dem Volksmunde gelehrter Scharfsinn und schuf, auf Ab-
und Irrwege geraten, unnatürlichen Aberwitz aus der
kunstlosen Blüte des Volkswitzes.
Zwischen dem vorhin genannten Stephansturme und der eben
auch genannten Spinnerin am Kreuze auf dem Wienerberge
findet nach dem Volksmunde diese Beziehung statt, dass die
Spitze des Turmes genauso hoch aufragt als die Spitze des
kunstvollen Kreuzstockes auf dem Berge, dessen Höhe vom
Boden auf sechs Fuß drei und einen halben Zoll Wiener Maß
hält.
Manche alte Wahrzeichen hat auch die Zeit hinweggedrängt,
und nur an den dauernden Fels der Erinnerung ist das
sagenhafte Verweilen der Kunde von ihnen gebannt. Eines
derselben war die Speckseite im roten Turme.
Der Reisende, welcher sonst aus dem innern Deutschland sich
der Kaiserstadt näherte, betrat sie durch dasjenige Tor,
welches der rote Turm hieß. Dieser Turm an sich war schon
merkwürdig durch die an ihm angebrachte Steinbildnerei, die
zum Träger einer Sage geworden. Man erblickte an ihm zwei
steinerne Statuen, deren eine Herzog Leopold den Fünften von
Österreich darstellte, die zweite aber den vom Erstgenannten
gefangen gehaltenen König von England, Richard Löwenherz,
und es soll von dem Lösegelde des gefangenen Königs
ebendieser Turm erbaut worden sein. Inwendig aber am
Torgewölbe hing eine Speckseite, von der wird folgendes
erzählt.
Man sagte sonst allgemein den guten Wienern nach, dass bei
ihnen und über sie die Weiber das Regiment hätten und die
Männer vor ihnen in beständiger Furcht lebten. Diesen Spott
nahmen sich die Männer endlich dermaßen zu Herzen, dass sie
sich darüber bei ihrer Obrigkeit beklagten und beschwerten
und um Abhilfe baten, da es doch gar nicht auszuhalten sei,
in aller Munde für Feiglinge und Leute zu gelten, die unterm
Pantoffel. Da ließ der Magistrat eine rohe Speckseite unter
das Torgewölbe des roten Turmes hängen und zwei große
Schrifttafeln daneben, auf welchen deutlich zu lesen war:
Befind't sich irgend hier ein Mann,
Der mit der Wahrheit sprechen kann,
Dass ihm sein' Heirath nicht gerauen
Und fürcht sich nicht vor seiner Frauen,
Der mag diesen Backen * herunter hauen.
und:
Welche Frau den Mann oft rauft und schlägt,
Und ihn mit kalter Lauge zwägt **,
Der soll den Backen lassen henken,
Ihr ist ein andrer Kirch-Tag *** zu schenken.
Auch wurde durch die ganze Stadt Wien ausgerufen, dass
dieses Zeichen aufgehangen sei, und jedermänniglich
aufgefordert, sein Hausregiment zu dokumentieren, allein -
die Männer schwiegen still und duckten, nach wie vor, - den
Backen keiner holen will, er blieb im roten Tor.
Endlich kam ein kecker, junger Ehemann, der sich einbildete,
weil noch die Flitterwochen und das Weiblein ihm aus Liebe
alles zu Liebe tat, er sei ein rechter Hausherr, erbot sich
demnach kecklich, die Speckseite herunterzuholen, nahm eine
Leiter, rief viele Zeugen und klomm im Torgewölbe empor. Da
es aber gerade ein heißer Sommertag war und die Speckseite
was weniges triefte, so stieg er rasch wieder von der Leiter
und zog den saubern neuen Rock aus, den er trug. Auf
Befragen, warum er denn seinen Rock ausziehe, antwortete er:
"Ei, ich will den Rock erst ausziehen, denn wenn ich ihn
unsauber mache und heimkomme, so werde ich von meiner Frau
übel gescholten."
Da lachten alle Zuschauer laut auf, sahen, dass er ein
Aufschneider und ein Pantoffelritter war, zogen ihn mit
einigen trockenen Rippenstößen von der Leiter hinweg und
litten nicht, dass er den Backen hole. Dieser blieb nachher
noch ein paar hundert Jahre hängen, wurde als ein
Wahrzeichen gezeigt, darnach kein Wiener Mann Verlangen
trüge, und kam hinweg, als im Jahr 1776 der rote Turm
abgetragen wurde.
* Backen, das halbe Hinterviertel, Schinken vom Hinterteil.
** Zwägt, den Kopf wäscht.
*** Hochzeitstag.
Quelle: Volkssagen, Mährchen und Legenden des
Kaiserstaates Österreich, Ludwig Bechstein, 1840. Bilder: © Bwag/Wikimedia und www.nikles.net.
Einige Texte sind von der freien Wikipedia kopiert und angepasst worden. Die allermeisten Bild- und Mediendateien sind aus eigener Quelle und können auf Anfrage für eigene Webseiten verwendet werden. Sollten sich dennoch Bild- oder Mediendateien auf dieser Seite finden, welche einen Copyright unterliegen, so bitte ich um Verständigung per Email office@nikles.net, damit ich einen Copyright-Vermerk bzw. Weblink anbringen kann, bzw. auf Wunsch die Bild- oder Mediendateien löschen kann.
Günter Nikles
Josef Reichl-Str. 17a/7
7540 Güssing
Austria
Email:
office@nikles.net
Website:
www.nikles.net
(c) 2024 www.nikles.net